Ein Istanbuler Gericht hat die Brüder von Hatun Sürücü freigesprochen. Außerdem in der Presseschau: Henning Saß hält Beate Zschäpe weiterhin für voll schuldfähig und ein Schweizer Gericht sieht in einem "Like" eine strafbare Ehrverletzung.
Thema des Tages
Türkei – Hatun Sürücü: Die beiden älteren Brüder von Hatun Sürücü sind in einem Prozess in Istanbul aus Mangel an Beweisen von dem Vorwurf, Beihilfe zu dem Mord an ihrer Schwester geleistet zu haben, freigesprochen worden. Sürücü war im Februar 2005 in Berlin von ihrem jüngeren Bruder Ayhan wegen ihres westlichen Lebensstils erschossen worden; der Fall löste eine Debatte um sogenannte Ehrenmorde aus. Das Landgericht Berlin verurteilte nur den jüngeren Bruder, die beiden älteren Brüder wurden auch damals freigesprochen. Zwar wurden die Freisprüche vom Bundesgerichtshof 2007 im Revisionsverfahren aufgehoben, inzwischen hatten sich die Brüder jedoch in die Türkei absetzt, wie die SZ (Mike Szymanski), die FAZ (Alexander Haneke u.a.) und spiegel.de berichten.
Rainer Hermann (FAZ) meint, dass die türkische Justiz nicht mehr unabhängig sei. Angesichts dessen könne man sich fragen, ob das Urteil eine Retourkutsche dafür sei, dass Deutschland türkischen Dissidenten Asyl gewährt habe.
Rechtspolitik
Ausschluss von der Parteienfinanzierung: lto.de (Marcel Schneider) erläutert die geplante Änderung des Art. 21 Grundgesetz und berichtet von der diesbezüglichen Sachverständigen-Anhörung. Die befragten Rechtsprofessoren äußerten insoweit keine grundlegende Kritik, sondern beschränkten sich auf Verbesserungsvorschläge. Lediglich der Rechtsanwalt Johannes Lichdi befürchtete einen schweren Schaden für die Glaubwürdigkeit der Demokratie und erklärte sich gegen das Vorhaben.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter Sven Jürgensen setzt sich auf verfassungsblog.de kritisch mit der geplanten Änderung von Art. 21 Grundgesetz auseinander. Der Autor äußert grundlegende Bedenken an der in Frage stehenden Verfassungsänderung; so werde der Chancengleichheit der Parteien der Boden entzogen, die Änderung folge einem Freund-Feind-Schema und sei schließlich nicht im Sinne der Verfassung. Vor diesem Hintergrund stellt er die Frage nach der Verfassungswidrigkeit der geplanten Änderung.
UrhWissG: Die taz (Christian Rath) geht auf die von und in der FAZ geäußerte Kritik an dem Gesetzentwurf zur Reform des Urheberrechts ein. So werde behauptet, jeder könne künftig Zeitungsartikel "der Allgemeinheit zu Bildungszwecken kostenlos" zugänglich machen – dies sei aber nicht richtig, vielmehr sei dies nur Bildungseinrichtungen erlaubt. Die FAZ befürchtet siebenstellige Einbußen in ihrem Archivgeschäft, die wirtschaftlichen Grundlagen der freien Presse seien bedroht.
Ladendiebstahl: Der Handelsverband Deutschland (HDE) übt in einem Schreiben deutliche Kritik an dem von den Regierungsfraktionen im Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf zur Erhöhung des Strafrahmens bei Wohnungseinbruchdiebstahl, wie die FAZ (Michael Ashelm) berichtet. Bei den Unternehmern bilde sich der Eindruck, der Staat wolle nur gegen Wohnungseinbrecher, nicht aber gegen Ladendiebe vorgehen. Vor diesem Hintergrund fordere der Branchenverband eine Verschärfung des Strafrahmens für "alle schweren Diebstahlsdelikte", außerdem solle der "gewerbsmäßige Diebstahl" in den Tatbestand des § 244 Abs. 1 Strafgesetzbuch aufgenommen werden.
Bio-Siegel: Die von Agrarkommissar Phil Hogan vorgelegte neue EU-Verordnung zu Bio-Lebensmitteln scheitert am Widerstand des Agrarministerrates, wie die SZ (Markus Balser) meldet. Insbesondere für Unmut sorge, dass der jüngste Kompromissvorschlag Kontrollen der Bio-Produktion außerhalb von Europa nicht vorsehe und auch Stichproben innerhalb Europas wegfallen sollen. Der Plan, die Grenzwerte für Pestizide in Bio-Lebensmitteln zu verschärfen, stoße ebenfalls auf Widerstand. Die Bundesregierung mahne indes zur Eile, denn die andauernde Unsicherheit schade den Landwirten.
Kritische Infrastrukturen: Die Bundesregierung beschließt voraussichtlich heute über die Ausweitung der Verordnung zum Schutz kritischer Infrastrukturen (Kritis), wie das Hbl (Daniel Delhaes) berichtet. Die Verordnung, die Betreibern von als kritisch eingestuften Anlagen eine Meldepflicht in Bezug auf IT-Angriffe an das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik auferlegt, soll künftig auch im Gesundheitswesen, der Finanz- und Versicherungsbranche sowie im Transport- und Verkehrssektor gelten. Die Wirtschaft wehre sich gegen diese Regulierung.
Justiz
BVerfG – EZB-Anleihenkäufe: Der Berliner Finanzwissenschaftler Markus Kerber hat einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Bundesverfassungsgericht gestellt. Gerichtet ist das Begehren auf den Ausstieg Deutschlands aus dem Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank, wie das Hbl meldet. Der Antragsteller argumentiert, die Fortsetzung des Programms sei für den deutschen Staatshaushalt mit unverhältnismäßig hohen Risiken verbunden.
BGH zu Sachverständigen: Die Rechtsanwälte Christian Hinz und Ashkan Rahmani besprechen in einem Beitrag in der FAZ einen Beschluss des Bundesgerichtshofs zur Ablehnung Sachverständiger wegen Befangenheit. Das Gericht habe das Ablehnungsrecht auf eine Vorbefassung des Sachverständigen mit Blick auf sämtliche gleichgelagerten Fälle ausgedehnt. Nicht mehr relevant sei, ob die Vortätigkeit für eine der Prozessparteien erfolgte. Der Beschluss sei zu begrüßen, berge aber praktische Herausforderungen sowohl für Sachverständige als auch Prozessbeteiligte.
OLG München – NSU: Der vom Oberlandesgericht München bestellte psychiatrische Gutachter Henning Saß hat sich gegen die Kritik an seinem Gutachten, das Beate Zschäpe als voll schuldfähig und gefährlich einschätzt, verwahrt. Die Verteidigung hatte zwei weitere Gutachter beauftragt, die Saß in seiner Beurteilung der Schuldfähigkeit Zschäpes widersprechen. Insbesondere gegen das Gutachten des emeritierten Professors Joachim Bauer wehre sich der Psychiater Saß vehement; Bauers Einschätzungen seien "offensichtlich nicht gestützt auf die speziellen Kenntnisse und Erfahrungen in der forensischen Psychiatrie", er äußere lediglich spekulative Vermutungen, wie die SZ (Annette Ramelsberger/Wiebke Ramm) schreibt. Es berichten ebenfalls die FAZ (Karin Truscheit) und die Welt (Gisela Friedrichsen).
OLG Hamburg – Erdogan: Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat mit Mustafa Kaplan einen neuen Anwalt gefunden. Der Politiker möchte im Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Hamburg ein Verbot von Jan Böhmermanns "Schmähgedicht" erreichen. Sein bisheriger Anwalt Michael-Hubertus von Sprenger hatte angesichts der Nazi-Vergleiche, die Erdogan in Bezug auf die Bundesregierung äußerte, sein Mandat niedergelegt, wie die FAZ und lto.de melden.
OLG Hamburg zu Barclays: Das Versprechen "0 Euro für Bargeld weltweit", mit dem die Barclays Bank wirbt, ist nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg irreführende Werbung. Es könnten nämlich durchaus außerhalb Europas Gebühren anfallen, auf diese werde nur im Kleingedruckten hingewiesen. Es berichtet die FAZ (Hendrik Wieduwilt).
KG Berlin – Facebook-Erbe: Die SZ (Wolfgang Janisch) geht mit Blick auf ein heute zu verkündendes Urteil des Kammergerichts Berlin der Frage nach, ob Eltern auf das Facebook-Konto ihres verstorbenen Kindes zugreifen dürfen. Das Landgericht Berlin hatte in der Vorinstanz zu Gunsten der Eltern entschieden, dass das Vertragsverhältnis zwischen dem sozialen Netzwerk und dem verstorbenen Mädchen auf die Eltern als Erben übergehe. Zentrales Problem sei allerdings der Schutz des Fernmeldegeheimnisses der Kommunikationspartner; die Vertraulichkeit der Kommunikation der Facebook-Freunde müsse mit dem Eigentumsrecht der Erben abgewogen werden, so Janisch.
LG Koblenz – Neonazi-Prozess: Das Landgericht Koblenz hat einen Prozess gegen 17 mutmaßliche Mitglieder des rechtsextremen "Aktionsbüros Mittelrhein" nach mehr als 300 Verhandlungstagen eingestellt. Grund für die Einstellung sei die "überlange Verfahrensdauer" von fast fünf Jahren, wie die SZ und spiegel.de schreiben. Nachdem der Vorsitzende das Ruhestandsalter erreichte, hätte der Prozess neu beginnen müssen. Die Anklage hatte auf Bildung einer kriminellen Vereinigung, Körperverletzung und Sachbeschädigung gelautet.
LG Leipzig zu Professoren-Berufung: Das Landgericht Leipzig hat einem Wissenschaftler, der sich als Professor an der Universität Leipzig beworben hatte und von der Berufungskommission als der am besten geeignete Kandidat eingeordnet worden war, einen Schadensersatz in Höhe von circa 1,1 Millionen Euro zugesprochen. Der Freistaat Sachsen müsse dem Kläger bis zum Jahr 2029, dem Jahr seiner voraussichtlichen Pensionierung, Ersatz dafür leisten, dass dieser nun eine schlechter bezahlte Anstellung innehabe, wie spiegel.de berichtet. Das Gericht sei zu dem Schluss gekommen, dass die Rektorin der Universität ihre Amtspflichten verletzt habe, indem sie die zweitplatzierte Bewerberin bevorzugte.
AG München zu Altglas: Das Amtsgericht München hat den Erlass zweier Strafbefehle gegen ein Ehepaar, das mit Hilfe eines Greifarmes Pfandflaschen aus einem Altglascontainer entnahm, abgelehnt. Es sei kein "messbarer Diebstahlschaden" entstanden, denn die Flaschen würden mit dem Einwurf in den Container dem Pfandkreislauf entzogen – es könne somit lediglich um den Materialwert gehen. Dieser war so gering, dass seine Berechnung nicht möglich war, wie faz.net (Karin Truscheit) schreibt. Udo Vetter gibt auf lawblog.de zu bedenken, dass auch geringwertige Sachen entwendet werden könnten. Es fehle aber an der Aneignungsabsicht.
AG München zu eBay: Das Amtsgericht München hat entschieden, dass es sich bei der wahrheitsgemäßen Bewertung eines eBay-Verkäufers um eine vertragliche Nebenpflicht handelt, wie die FAZ (Hendrik Wieduwilt) schreibt. Dem Kläger war zu Unrecht vorgehalten worden, er habe die Ware nicht in der Originalverpackung verkauft, außerdem habe er die Selbstabholung nicht ermöglicht.
EuGH – Freizügigkeit nach Einbürgerung: Der Generalanwalt Yves Bot geht vor dem Europäischen Gerichtshof davon aus, dass Bürger der Europäischen Union auch nach einer Einbürgerung mit ihren Familienangehörigen zusammenleben können müssen, wie lto.de (Tanja Podolski) berichtet. Im konkreten Fall gehe es um einen albanischen Mann, der mit einer Spanierin, die die britische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, verheiratet sei und dem eine Aufenthaltskarte verweigert wurde. Auf die Klage des Mannes wendete sich der High Court of Justice nun an den Europäischen Gerichtshof mit der Frage, ob die britische Regelung zum abgeleiteten Aufenthaltsrecht mit Unionsrecht, insbesondere mit der Freizügigkeitsrichtlinie, vereinbar sei.
Recht in der Welt
EGMR zu Russland: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Russland mit Blick auf die Neuauszählung bei der Parlamentswahl 2011 sowie die Wahl zur Sankt Petersburger Versammlung wegen einer Verletzung des Rechts auf freie Wahlen verurteilt, wie lto.de meldet. Zwar könne das Gericht den Verdacht auf unzulässige Einflussnahme nur begrenzt prüfen, der Vorwurf sei aber vertretbar.
Schweiz – strafbare "Likes": Das Bezirksgericht Zürich hat entschieden, dass sich wegen übler Nachrede strafbar macht, wer ehrverletzende Äußerungen bei Facebook mit einem "Gefällt mir" markiert. In dem zu entscheidenden Fall ging es um einen 45-jährigen Mann, der den Präsidenten des "Vereins gegen Tierfabrikanten" nicht nur als "Rassisten" und "Antisemiten" bezeichnet hatte, sondern auch entsprechende Beiträge anderer Nutzer mit einem "Gefällt mir" versehen hatte. Das Gericht betonte, dass auch das Anklicken der "Gefällt mir"-Schaltfläche eine strafbare Handlung gewesen sei: Damit befürworte er die ehrverletzenden Inhalte und mache sie sich zu eigen, wie lto.de berichtet. Die BadZ (Christian Rath) prüft auch die Relevanz des Urteils für Deutschland.
Spanien – Abschiebung nach Stalking: Ein 48 Jahre alter Deutscher ist nach Verbüßung einer Haftstrafe aus Spanien abgeschoben worden. Der Mann, der einer spanischen Schauspielerin nachgestellt und mit einer Armbrust nach ihr geschossen hatte, sei auch nach acht Jahren Haft so gefährlich, dass die Madrider Regionalregierung eine "Expressabschiebung" angeordnet habe, wie FAZ (Hans-Christian Rößler) und spiegel.de berichten. Dies sei für EU-Bürger eine ungewöhnliche und komplizierte Maßnahme
Ägypten – NGOs: Menschenrechtsorganisationen appellieren an Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi, ein vom Parlament bereits verabschiedetes Gesetz, das Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen regelt, nicht zu unterzeichnen. Das geplante Gesetz komme laut Mohammed Zaree vom Cairo Institute for Human Rights Studies einem Arbeitsverbot für Menschenrechtler gleich, wie die SZ (Paul-Anton Krüger) berichtet. Es enthält insbesondere eine Generalklausel, die sich gegen jede Aktivität, die der nationalen Sicherheit zuwiderläuft, richtet. Betroffen sein könnten auch deutsche politische Stiftungen.
Sonstiges
NRW-Landtagspräsidium: Die AfD wird voraussichtlich als einzige Fraktion nicht im Präsidium des nordrhein-westfälischen Landtags vertreten sein, wie die SZ (Jan Bielicki) berichtet. Dies sei auch legal – in einem ähnlich gelegenen Fall habe der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen auf die Klage der Piratenfraktion hin entschieden, dass die Landesverfassung "kein Recht einer Fraktion auf die Besetzung einer Stellvertreterposition" begründe.
Das Letzte zum Schluss
Bombe in der Scheune: Ein bayerischer Landwirt hat eine bei Feldarbeiten entdeckte Bombe mit nach Hause genommen und in seiner Scheune deponiert, wie spiegel.de meldet. Erst drei Tage nach dem Fund habe er die Polizei herbeigerufen; die Bombe musste schließlich von einem Sprengkommando zur Detonation gebracht werden. Jetzt droht dem Landwirt eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/fs
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 31. Mai 2017: Sürücü-Brüder freigesprochen / Gutachterstreit im NSU-Prozess / Strafbare "Likes" . In: Legal Tribune Online, 31.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23071/ (abgerufen am: 16.04.2024 )
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