Wer hat was im Fall Anis Amri übersehen? NRW-Innenminister Jäger erklärt sich. Außerdem in der Presseschau: Gerhart Baum im Interview, Bundesrichter verdienen auch jenseits der Richterbank bemerkenswert und Urteil zu Putschversuch.
Thema des Tages
Anis Amri: Im Innenausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags nahm Innenminister Ralf Jäger (SPD) Stellung zum Fall Anis Amri, dem mutmaßlichen Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz. Versäumnisse von Behörden bestritt der Minister. Trotz einer "durchgehend engmaschigen Beobachtung" durch eine Anzahl von Beamten habe es keine konkreten Hinweise auf einen bevorstehenden Anschlag gegeben, schreibt die FAZ (Reiner Burger) über die Darstellung Jägers. Gleichwohl müsse geprüft werden, ob und wie als Gefährder eingestufte Personen leichter inhaftiert werden könnten. Nach aktuellen ausländerrechtlichen Bestimmungen sei auch eine Abschiebung nach Tunesien nicht umsetzbar gewesen. Weitere Berichte über die Anhörung, aber auch über Amris mehrfache, unter verschiedenen Identitäten unternommenen Registrierungen bringen Hbl (Kathrin Witsch/Frank Specht) und Welt (Kristian Frigelj).
Nach dem Kommentar Kathrin Witsch (Hbl) zieht sich der Innenminister mit seiner Einschätzung "gekonnt aus der Affäre". Bereits nach den Silvesterübergriffen vor einem Jahr habe er es verstanden, Verantwortung weit von sich zu schieben.
Facebook-Fahndung: Vor dem Hamburger Ausschuss für Justiz muss der Justizsenator der Hansestadt, Till Steffen (Grüne), am heutigen Freitag Stellung zu Vorwürfen der Opposition nehmen, er habe die Fahndung nach Amri behindert. CDU und FDP würfen Steffen vor, er habe erst mit Verspätung einer öffentlichen Fahndung auf Facebook und Twitter zugestimmt, schreibt die taz-Nord (Andre Zuschlag). Der Senator selbst habe bereits erklärt, dass die Polizei bei derartigen Maßnahmen eigenverantwortlich handle.
Kontaktmann Amris: Von weiteren Erkenntnissen zu Bilel A., dem mutmaßlichen Kontaktmann Amris, berichtet spiegel.de (Sven Röbel/Christoph Sydow). Unter einer seiner Tarnidentitäten sei der Mann am 24. November vom Berliner Amtsgericht Tiergarten wegen eines Diebstahls mit Waffen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden.
Rechtspolitik
Sicherheitsarchitektur: In einem ausführlichen Interview mit zeit.de (Steffen Dobbert) gibt der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) seine Einschätzung zu den jüngsten Vorschlägen des amtierenden Innenministers Thomas de Maizière (CDU) wieder.
Videoüberwachung: Die FAZ (Helene Bubrowski) analysiert die vor allem durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2007 sowie durch diverse bundes- und landesrechtliche Bestimmungen geprägten Voraussetzungen der Videoüberwachung im öffentlichen Raum. Eine seit längerem geplante, aber erst kurz vor Weihnachten von der Bundesregierung initiierte Gesetzänderung verschiebe die anzustellende Abwägung zwischen Sicherheits- und datenschutzrechtlichen Belangen zugunsten Ersterer.
Teilzeitarbeit: Frank Specht (Hbl) beschäftigt sich im Leitartikel der Zeitung mit der "Bigotterie in der derzeitigen Arbeitszeitdebatte". Einerseits gelte Teilzeitbeschäftigung als gut, weil sie persönliche Freiräume eröffne, andererseits als schlecht, weil sie kein auskömmliches Einkommen bedeute. Der aktuelle Entwurf zu einem Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit bedeute eine "Vollkaskoversicherung für persönliche Lebensentscheidungen der Arbeitnehmer", für die Arbeitgeber "nun nicht auch noch die Prämien zahlen" wollten.
Steuervermeidung: Das Hbl (Ruth Berschens/Donata Riedel) berichtet ausführlich zur Absicht der EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, einen französischen Energiekonzern wegen mutmaßlich unrechtmäßig nicht abgeführter Steuern in Luxemburg zu einer Nachzahlung in dreistelliger Millionenhöhe zwingen zu wollen. Das Vorhaben sei Teil einer konzertierten Aktion der Kommission zur Herstellung fairer Unternehmensbesteuerung in Europa. Zu dieser gehörten auch Pläne des für die Steuerpolitik zuständigen Kommissars Pierre Moscovici, Unternehmen zur länderweisen Auflistung von Steuern und Gewinnen zu verpflichten. Dies scheiterte bislang am Widerstand mehrerer Mitgliedsstaaten, unter ihnen Deutschland.
Bundesarchivgesetz: Mit einem Gastbeitrag für das Feuilleton der FAZ nehmen Eva Schlotheuber und Frank Bösch an der Debatte über die Neufassung des Bundesarchivgesetzes teil. Die Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands erkennen die Notwendigkeit einer Reform des "aus der vordigitalen Zeit" stammenden aktuellen Gesetzes an, bemängeln am gegenwärtigen Entwurf jedoch fehlende Aktenübermittlungspflichten für Behörden oder gerade für Geheimdienste geltende Sonderregelungen, nach denen die Dienste selbst entscheiden dürften, ob einer Aktenübermittlung bestimmte Gründe entgegenstehen.
Fake News: In ihrem Feuilleton befragt die Welt (Christian Meier) Rechtsprofessor Tobias Gostomzyk zum Einfluss sogenannter Fake News auf politische Meinungsbildungsprozesse, Einflussmöglichkeiten von Politik und klassischem Journalismus gegenüber derartigen Falschmeldungen und dem Sinn ihrer Pönalisierung.
Miet- und Immobilienrecht: Einen Überblick zu den in diesem Jahr geplanten Änderungen im Miet- und Immobilienrecht einschließlich der Aussichten auf tatsächliche Umsetzung liefert Rechtsanwalt Dominik Schüller auf lto.de.
Justiz
LG Regensburg zu Abgas-Affäre: Vor dem Landgericht Regensburg hat ein Autofahrer, dessen Fahrzeug manipulierte Dieselmotor-Software enthielt, die Lieferung eines mangelfreien Autos erstritten. Hierbei kam dem Kläger nach der Analyse von focus.de (Michael Winter) zugute, dass er vorprozessual gerade nicht Nacherfüllung durch Nachbesserung gefordert hatte. Somit müsse er nach dem noch nicht rechtskräftigen Urteil nun auch keine Nutzungsentschädigung für die mit dem mangelhaften Auto gefahrenen Kilometer leisten.
LG Berlin – Mord: Wegen der Tötung seiner früheren, von ihm schwangeren Freundin muss sich ein tunesischer Flüchtling vor dem Landgericht Berlin verantworten. Nach dem Bericht der Welt (Ricarda Breyton) blieb zum Prozessauftakt das Motiv des Angeklagten, der durch die Geburt des Kindes seinen aufenthaltsrechtlichen Status verbessert hätte, vorerst im Dunklen. Die Verteidigung habe jedoch die Verlesung einer ausführlichen Erklärung angekündigt.
VG Osnabrück zu Sonntagsruhe: Für den kommenden Sonntag erteilte Sondergenehmigungen zur Öffnung von Geschäften in Nordhorn sind nach Meldung der taz-Nord vom Verwaltungsgericht Osnabrück aufgehoben worden. Bestimmungen des Niedersächsischen Gesetzes über Ladenöffnungs- und Verkaufszeiten, auf die diese Genehmigung gestützt wurden, seien wegen Widerspruchs zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sonntagsruhe verfassungswidrig.
AG Berlin-Tiergarten zu Kratzwunde: Zu einer Geldstrafe wegen Körperverletzung ist die früher für die "Piraten" und die "Grünen" aktive Politikerin Anke Domscheit-Berg vom Amtsgericht Tiergarten in Berlin verurteilt worden. Domscheit-Berg hatte nach den Feststellungen des Gerichts während einer Mahnwache für ertrunkene Flüchtlinge im Juni 2015 bei einem Gerangel eine Polizistin mit ihren Fingernägeln eine Kratzwunde zugefügt. zeit.de berichtet.
Nebenverdienste von Richtern: Auf eine Kleine Anfrage der Grünen hin hat das Bundesjustizministerium Angaben zu den durch Nebentätigkeiten von Bundesrichtern erwirtschafteten Nebenverdiensten gemacht. Zahlen nennt die Welt (Jan Dams). Als Spitzenreiter im Untersuchungszeitraum 2010 bis 2016 dürfte ein nicht namentlich genannter Richter am Bundesgerichtshof gelten, der während dieser Zeit knapp 1,8 Millionen Euro dazuverdient habe.
Recht in der Welt
Frankreich/Kosovo/Serbien – UÇK-Funktionär: Aufgrund eines serbischen Haftbefehls wurde in Frankreich der frühere Chef der Militärformation "Ushtria Çlirimtare e Kosovës" (UÇK) festgenommen. Über die serbische Forderung nach einer Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen müsse nun die Anklagekammer des Berufungsgerichts von Colmar entscheiden, schreibt die taz (Rudolf Balmer).
Türkei – Putschversuch: Wegen Beteiligung an einem gewaltsamen Umsturzversuch hat ein Gericht in Erzurum zwei türkische Offiziere jeweils zu lebenslanger Haft verurteilt. Die beiden sollen nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur als Mitglieder der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen gehandelt haben, schreibt die FAZ (Michael Martens).
Israel – Elor Azaria: Über Reaktionen auf die militärgerichtliche Verurteilung des israelischen Soldaten Elor Azaria berichtet unter anderem lto.de. Während sich Politiker wie Ministerpräsident Benjamin Netanyahu für eine Begnadigung ausgesprochen hätten, seien zwei Menschen wegen Hetze im Netz festgenommen worden. Sie hätten die mit dem Fall befasste Richterin bedroht bzw. verächtlich gemacht.
USA – Google: Das US-amerikanische Arbeitsministerium will mit einer Klage erreichen, dass Google Firmeninterna wie Einstiegsgehälter von Mitarbeitern preisgibt. Dies sei nach Meldung von spiegel.de notwendig, um diskriminierende Praktiken beim Internetkonzern, der in Geschäftsbeziehungen zur Regierung steht, auszuschließen.
USA – Deutsche Bank: Nach Bericht von zeit.de hat die Deutsche Bank ihren Steuerstreit in den USA wegen angeblicher Scheinfirmen durch eine Zahlung von 95 Millionen Dollar beendet. Beobachter hätten die Einigung vor der Amtseinführung des neuen Präsidenten, der bei dem Kreditinstitut Schulden habe, begrüßt.
USA – VW: In den USA ist VW mit dem Versuch gescheitert, Klagen von Anlegern wegen Kursverlusten vor deutschen Gerichten verhandeln zu lassen, meldet faz.net.
Sonstiges
Edward Snowden: netzpolitik.org (Sven Braun) berichtet über einen unangekündigten Kurzvortrag Edward Snowdens auf dem Chaos Communication Congress. Per Videoschaltung nahm der Whistleblower unter anderem zum Zweck von Massenüberwachung und den mutmaßlichen Gründen der bisherigen Weigerung des NSA-U-Ausschusses, ihn als Zeugen zu vernehmen, Stellung.
VW-Renten: Mit dem Eintritt ins Rentenalter kann sich der frühere VW-Vorstandschef Martin Winterkorn auf eine Betriebspension in Millionenhöhe und eine zusätzliche Sonderzahlung aus einbehaltenen Prämien freuen, weiß das Hbl (Dieter Fockenbrock/Stefan Menzel). Nach der Einschätzung von Experten bestehe dabei tatsächlich eine gesetzliche Handhabe, die Zahlungen wegen der Folgen der Abgas-Affäre zu kürzen, wie dies im Fall der Hypo Real Estate und deren Managern auch geschehen ist. Dass dies seitens des Konzerns bislang nicht geschehen ist, bezeichnet Grischa Brower-Rabinowitsch (Hbl) in einem Kommentar als falsch. VW könne sich keineswegs darauf berufen, dass eine Kürzung als Schuldeingeständnis zu werten wäre. Sollte dies der Fall sein, wäre die entsprechende Bestimmung des Aktiengesetz "hinfällig".
Das Letzte zum Schluss
Personalengpass: Die bei Sevilla gelegene Kleinstadt Isla Mayor beschäftigt acht Polizisten. Vier von ihnen sind nach Meldung der taz jetzt bis auf weiteres vom Dienst befreit. Weil sie Teil einer Bande sein sollen, die Haschisch aus Marokko "in großem Stil" ins Land schmuggelte, wurden sie festgenommen.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 6. Januar 2017: Fehler im Fall Amri? / Baum über Sicherheit / Reiche Richter . In: Legal Tribune Online, 06.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21643/ (abgerufen am: 16.04.2024 )
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