Seit Monaten sitzen Mitarbeiter der türkischen Zeitung Cumhuriyet in U-Haft. Nun wird ihnen der Prozess gemacht - wegen Terrorunterstützung. Reporter ohne Grenzen sieht darin einen "Standardvorwurf gegen alle, die kritisch berichten".
Mehr als 250 Tage nach ihrer Inhaftierung hat in Istanbul der Prozess gegen zahlreiche Mitarbeiter der regierungskritischen türkischen Zeitung Cumhuriyet begonnen. Der Auftakt am Montag in Istanbul wurde von scharfer internationaler Kritik begleitet. Reporter ohne Grenzen (ROG) nannte die Vorwürfe gegen die Cumhuriyet-Angeklagten "absurd". Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) forderte ein sofortiges Ende des Verfahrens wegen Unterstützung von Terrororganisationen und die Freilassung der Inhaftierten.
Angeklagt sind insgesamt 17 Cumhuriyet-Mitarbeiter: Elf der zwölf Mitarbeiter in Untersuchungshaft, fünf weitere Mitarbeiter der Zeitung, die noch auf freiem Fuß sind, sowie Ex-Chefredakteur Can Dündar. Dündar lebt im Exil in Deutschland. Vor Gericht müssen sich unter anderem der derzeitige Chefredakteur Murat Sabuncu, Cumhuriyet-Herausgeber Akin Atalay und der Investigativjournalist Ahmet Sik verantworten. Nach Angaben von ROG drohen den Angeklagten bis zu 43 Jahre Haft.
Anklage wegen Terrorunterstützung
Nach Angaben ihrer Anwälte wird ihnen allen Unterstützung von Terrororganisationen wie der kurdischen Arbeiterpartei PKK, der Gülen-Bewegung (Fetö) oder der linksextremen DHKP-C vorgeworfen. Die Regierung macht die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich.
In der Anklageschrift wird der damalige Chefredakteur Dündar unter anderem beschuldigt, die Blattlinie geändert zu haben. Die Zeitung habe unter seiner Führung die "Terrororganisationen" verteidigt, heißt es. Als Indizien werden unter anderem Artikel angeführt. Etwa ein Bericht aus dem Jahr 2015, in dem die Cumhuriyet geheime Informationen veröffentlichte, die Waffenlieferungen der Regierung an Rebellen in Syrien belegen sollen. Dafür wurden Dündar und der Hauptstadtbüroleiter Erdem Gül in einem anderen Verfahren schon zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Geheimnisverrats verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Auch Twitter-Nachrichten der Journalisten werden in der Anklage aufgeführt. Im Fall des Investigativ-Journalisten Sik etwa mehrere, die den Konflikt zwischen der Regierung in Ankara und der PKK im Südosten des Landes thematisieren.
2/2 "Verfahren gegen die Pressefreiheit"
Der Beauftragte für Medienfreiheit der OSZE, Harlem Désir, teilte mit: "Ich fordere die Türkei hiermit auf, alle Anschuldigungen fallenzulassen, alle Journalisten, die wegen ihrer Arbeit inhaftiert worden, freizulassen, und dringend benötigte Reformen einzuleiten, um die Medienfreiheit im Land zu schützen." ROG-Geschäftsführer Christian Mihr sagte der Deutschen Presse-Agentur, das Verfahren richte sich nicht nur gegen die Angeklagten und die Zeitung, sondern gegen die Pressefreiheit.
Mihr fügte hinzu, die Beschuldigung, Terrororganisationen zu unterstützen, sei inzwischen "der Standardvorwurf gegen alle, die unabhängig berichten". Kritische Journalisten stünden unter enormem Druck, "weil jeder damit rechnen muss, morgen der Nächste zu sein, der im Gefängnis landet aufgrund absurder und nicht zu haltender Vorwürfe".
Mihr gehört zu mehreren internationalen Beobachtern des Prozesses. Er beteiligte sich zuvor mit einigen Dutzend Unterstützern der Angeklagten an einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude.
Anwälte von Menschenrechtler Peter Steudtner legen Einspruch ein
Der SPD-Europaabgeordnete Arne Lietz forderte in Istanbul am Rande des Prozesses die Freilassung aller inhaftierten Journalisten, Menschenrechtler und Politiker in der Türkei. Seine Grünen-Kollegin Rebecca Harms sprach von einer "Massenverfolgung" von Kritikern von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. "Es geht darum, Angst und Schrecken zu verbreiten", sagte Harms der dpa am Rande des Prozesses. "Man möchte die Leute demotivieren, die Leute davon abhalten, sich Erdogans Politik zu widersetzen. Die Verfolgung der Presse spielt dabei eine ganz besondere Rolle."
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von ROG liegt die Türkei auf Platz 155 von 180. Nach Angaben der Europäischen Journalistenvereinigung sind dort inzwischen mehr als 150 Journalisten hinter Gittern - mehr als in jedem anderen Land der Welt. Dazu gehört auch der deutsch-türkische Welt-Korrespondent Deniz Yücel, der seit Februar in U-Haft sitzt - ohne Anklageschrift. Zuletzt wurde gegen sechs Menschenrechtler Untersuchungshaft verhängt, darunter der Deutsche Peter Steudtner.
Steudtners Anwälte legten unterdessen Einspruch gegen die Untersuchungshaft ein. Anwalt Murat Boduroglu vom zuständigen Kanzleiteam sagte der dpa, er rechne mit einer Entscheidung des Istanbuler Gerichts spätestens an diesem Dienstag. Erstmals hätten am Montag Vertreter des deutschen und des schwedischen Generalkonsulats Zugang zu Steudtner und Gharavi in der U-Haft bekommen. Das wurde dpa aus diplomatischen Kreisen bestätigt.
dpa/mgö/LTO-Redaktion
Verhaftungen von Journalisten in der Türkei: Cumhuriyet-Prozess hat begonnen . In: Legal Tribune Online, 24.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23587/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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