EGMR zu Methadon in Haft: Straßburg stellt Men­schen­rechts­ver­stoß fest

01.09.2016

Viele heroinabhängige Häftlinge in Deutschland erhalten auch keine Ersatzstoffe wie Methadon. In einem Fall aus Bayern verstieß die Ablehnung gegen die Menschenrechte. Das Urteil des EGMR könnte viele Gefängnisse zwingen, ihre Praxis zu ändern.

Deutschland hat gegen die Menschenrechte eines heroinabhängigen Häftlings verstoßen, indem ihm in einem Gefängnis in Bayern über Jahre ein Ersatzstoff wie Methadon verwehrt wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg wertete das in einem Urteil vom Donnerstag als unmenschliche Behandlung (Urt. v. 01.09.2016, Az. 62303/13).

Beschwerde eingereicht hatte ein 1955 geborener Mann, der in der Justizvollzugsanstalt (JVA) im schwäbischen Kaisheim während seiner Haft kein Methadon bekommen hatte. Er ist seit seiner Jugend heroinabhängig, außerdem HIV-positiv und an Hepatitis C erkrankt. 

Bewertungsfehler der JVA

Die Richter weisen in ihrem Urteil darauf hin, dass sie nicht zu entscheiden hatten, ob der Gefangene tatsächlich einen Heroin-Ersatzstoff brauchte. Vielmehr gehe es um die Frage, ob die Behörden seinen Gesundheitszustand in angemessener Weise bewertet und eine geeignete Behandlung gewählt haben. Hier stellte das Gericht Defizite fest. Insbesondere hätte die JVA unabhängige Experten hinzuziehen müssen.

Bei der Bewertung des Falls spielte eine Rolle, dass der Mann schon seit mehr als vier Jahrzehnten heroinabhängig ist und mehrere Male vergeblich versucht hatte, von der Droge loszukommen. Vor seiner Haft war er von 1991 bis 2008 in einem Methadon-Programm. Auch nach der Entlassung 2014 verschrieb ihm ein Arzt wieder eine Ersatzbehandlung.

Der Mann war 2009 wegen Drogenhandels zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. In dieser Zeit wurde er in eine Klinik zum "kalten Entzug" verlegt. Weil er heimlich Methadon konsumierte, musste er 2010 zurück in die JVA. Im Gefängnis bekam er Medikamente gegen seine chronischen Schmerzen. Eine Heroin-Ersatzbehandlung hielten die Behörden für nicht notwendig, sie schade auch der Rehabilitation. Im März 2012 lehnte das Landgericht Augsburg, anschließend bestätigt durch das Oberlandesgericht München, den Antrag des Mannes mit der Begründung ab, dass eine Substitutionsbehandlung weder aus medizinischer Sicht noch aus Belangen des Strafvollzugs indiziert sei.

Laut Urteil des EGMR deutet aber vieles darauf hin, dass eine Substitution sehr wohl erforderlich gewesen wäre. Eine Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums komme zu dem Schluss, dass für Abhängige die Behandlung mit einem Ersatzstoff die bestmögliche Therapie sei. Die Richter betonen, dass Gefangene medizinisch nicht schlechter versorgt werden dürften als Menschen in Freiheit. Die Verwehrung einer Substitutionsbehandlung stelle daher eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dar.

Die Straßburger Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, gegen alle Kammerurteile kann binnen drei Monaten Berufung eingelegt werden.

Bayern ist Schlusslicht bei Substitutionsbehandlungen

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) entscheidet jede Haftanstalt selbst, ob sie ein Methadon-Programm anbietet. Zwischen den Bundesländern gibt es jedoch große Unterschiede.

Laut DGS bekommen in Berlin vier Prozent und in Nordrhein-Westfalen zehn Prozent aller Häftlinge eine Ersatzbehandlung. In Bayern seien es zuletzt nur 0,4 Prozent gewesen. Im Juli waren in einem Würzburger Gefängnis knapp 50 vornehmlich drogenabhängige Häftlinge in Hungerstreik getreten, um unter anderem eine Methadon-Behandlung zu erzwingen.

Allerdings dürfen in Bayern derzeit nur wenige Gefängnisärzte Methadon verabreichen. Im Freistaat gebe es nur "vereinzelt" in den Anstalten Mediziner mit der notwendigen Qualifikation, sagte der Leiter des Würzburger Gefängnisses, Robert Hutter, am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur. Das Würzburger Gefängnis etwa habe beispielsweise keinen Arzt mit der Zusatzausbildung. Substitution in bayerischen Gefängnissen anzubieten sei grundsätzlich möglich, würde Hutter zufolge jedoch zahlreiche Schulungen von Ärzten nötig machen.

dpa/nas/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

EGMR zu Methadon in Haft: Straßburg stellt Menschenrechtsverstoß fest . In: Legal Tribune Online, 01.09.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20450/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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