BVerfG zu Abschiebung in die Türkei: Gerichte dürfen es sich nicht zu leicht machen

09.01.2018

Behörden und Gerichte trifft eine verfassungsrechtliche Pflicht, sich vor Abschiebungen über die Situation im Zielland zu informieren oder Zusicherungen der Behörden einzuholen, so das BVerfG. Das gelte auch für Abschiebungen in die Türkei.

Gerichte verletzen das in Art. 19 Abs. 4 S. 1 Grundgesetz (GG) gewährleistete Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie trotz gewichtiger Anhaltspunkte nicht aufklären, ob einem Betroffenen im Falle der Abschiebung Folter oder unmenschliche Haftbedingungen drohen. Das entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einem nun veröffentlichen Beschluss (v. 09.01.2018, Az. 2 BvR 2259/17).

Nach Auffassung der Karlsruher Richter ist es verfassungsrechtlich geboten, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Zielstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und vor der Abschiebung gegebenenfalls geeignete Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen, die Folter und unmenschliche Behandlung wirksam ausschließen.

Mit seiner Entscheidung hat das BVerfG einer Verfassungsbeschwerde teilweise stattgegeben und den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das Verwaltungsgericht (VG) zurückverwiesen.

VG: Keine beachtliche Gefahr für den Beschwerdeführer

Beschwerdeführer ist ein in Deutschland geborener und aufgewachsener türkischer Staatsangehöriger. Er war 2015 vom Kammergericht Berlin unter anderem wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland verurteilt worden, weil er sich salafistischen Kreisen angeschlossen und in Syrien einer terroristischen Vereinigung erhebliche Geld- und Sachleistungen überlassen hatte.

Die Ausländerbehörde wies den Mann nach der Verurteilung aus der Bundesrepublik aus und drohte die Abschiebung in die Türkei ein. Den dagegen gerichteten Eilantrag wie das VG ab, die daraufhin erhobene Beschwerde des Mannes zum Verwaltungsgerichtshof blieb erfolglos.

So stellte der Beschwerdeführer zusätzlich einen Asylantrag, der wiederum als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Wiederum dagegen begehrte der Beschwerdeführer Eilrechtsschutz und trug vor, gegen ihn sei in der Türkei ein Strafverfahren wegen Unterstützung des islamistischen Terrorismus anhängig, zusätzlich drohe im Folter.

Zur Begründung des Antrags legte er ein Schreiben von amnesty international vor, wonach die Organisation Hinweise von dem Vater eines in der Türkei als Terrorverdächtigen inhaftierten türkischen Staatsangehörigen erhalten habe. Danach werde dessen Sohn seit einiger Zeit schwer geschlagen und gefoltert. Ärztliche Versorgung werde den Gefangenen verwehrt, die in Zellen voller menschlicher Fäkalien untergebracht seien.

Trotz dieser Hinweise lehnte das Verwaltungsgericht den Eilantrag ab. Es berief sich auf den Verwaltungsgerichtshof, der im ausweisungsrechtlichen Verfahren zu Recht festgestellt habe, lediglich den Angehörigen der kurdischen PKK oder der Gülen-Bewegung drohe Folter. Im Falle des Beschwerdeführers mangele es jedoch an einer solchen beachtlichen Gefahr menschenrechtsiwdriger Behandlung oder gar Folter.

BVerfG: Türkische Verhältnisse als "gerichtsbekannt" anzusehen

Die Karlsruher Richter sahen das jedoch anders: Die Entscheidung des VG verletze den Mann in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 i. V. m. Art. 2. Abs. 2 S. 1 GG. Denn das Gebot effektiven Rechtsschutzes verlange nicht nur, dass jeder potenziell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der gerichtlichen Prüfung unterstellt werden könne. Vielmehr müssten die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächlich Wirksamkeit verschaffen.

Der Maßstab, an dem sich wirkungsvoller Rechtsschutz messen lassen muss, bestimmt sich nach Auffassung des BVerfG auch nach dem Gehalt des als verletzt behaupteten Rechts, im Falle des Beschwerdeführers also nach dem Gehalt der Menschenwürde sowie des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem Verbot der Folter aus Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).

In Fällen wie dem des Mannes, in dem es um Folter oder unmenschliche Behandlung gehe, komme der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung) verfassungsrechtliches Gewicht zu. Diesem Maßstab werde die Entscheidung des VG aber nicht gerecht, vielmehr verfehle es die verfassungsrechtlichen Vorgaben, indem es von keiner beachtlichen Gefahr ausging, weil nur PKK-Anhänger oder solche der Gülen-Bewegung ernstlich mit Folter und menschenrechtswidriger Behandlung rechnen müssten.

Die Karlsruher Richter entschieden, dass durchaus Anlass zur weiteren Sachaufklärung oder zur Einholung von Zusicherungen seitens der türkischen Behörden bestanden habe. Nicht nur das Schreiben von amnesty international, sondern auch die als "gerichtsbekannt einzustufenden allgemeinen Erkenntnisse zur politischen Situation in der Türkei" hätten eine Überprüfung erforderlich gemacht.

Die zweite Frage der Verfassungsbeschwerde, ob Personen, die islamistischen Terrororganisationen zuzurechnen sind, in der Türkei generell mit Folter zu rechnen haben, bedürfe es wegen des festgestellten Verstoßes gegen die Aufklärungspflicht keiner Entscheidung, so die Verfassungsrichter.

ms/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

BVerfG zu Abschiebung in die Türkei: Gerichte dürfen es sich nicht zu leicht machen . In: Legal Tribune Online, 09.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26365/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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