Special Anwaltstag: Die Anwaltschaft 25 Jahre nach den Bastille-Beschlüssen

Von Selbstverwaltung und Selbstverständnis

von Prof. Dr. Reinhard GaierLesedauer: 4 Minuten
Seit 25 Jahren verwaltet die Anwaltschaft sich in großem Umfang selbst. Sie macht ihre eigenen Normen, verleiht und entzieht Zulassungen. Die betroffenen Anwälte empfinden das Wirken der Kammern dabei oft als Einmischung oder Zwang. Völlig zu Unrecht, meint Reinhard Gaier, denn die Selbstverwaltung garantiert auf verfassungsrechtlicher Grundlage Unabhängigkeit und Staatsferne der Anwaltschaft.

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25 Jahre sind vergangen, seit das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die demokratische Legitimation für die Feststellung von Standesrichtlinien verneinte, die zur Konkretisierung der allgemeinen Berufspflichten des Anwalts nach § 43 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) herangezogen wurden. Gleichzeitig gab das Gericht dem Gesetzgeber auf, die rechtlichen Grundlagen für die Schaffung einer "Berufsordnung in Gestalt von Satzungsrecht" festzulegen (so genannte Bastille-Beschlüsse vom 14.07.1987, Az. 1 BvR 537/81, 1 BvR 195/87). Auch wenn das noch bis zum Jahr 1994 dauerte, verfügt die Anwaltschaft mittlerweile dank der Vorschrift des § 59b BRAO über die Kompetenz, das "Nähere zu den beruflichen Rechten und Pflichten … durch Satzung in einer Berufsordnung" zu bestimmen. Die Advokatur ist also seither in weiten Bereichen ihr eigener Normgeber. Allerdings ist diese Satzungskompetenz nur der markanteste Ausdruck eines weitgesteckten Entscheidungsbereichs in anwaltlicher Autonomie. Umfassende Befugnisse der Rechtsanwaltskammern namentlich bei der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft einschließlich ihres Entzugs oder auch bei der Überwachung und Sanktionierung beruflicher Pflichten treten hinzu.

Belästigung Selbstverwaltung?

Wie aber stehen die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zu dieser Exekutivmacht ihrer eigenen Kollegenschaft? Nach meinem Eindruck fühlen sie sich oftmals belästigt. Nicht selten werden die Befugnisse gerade der Kolleginnen und Kollegen als Anmaßung missverstanden und brüsk zurückgewiesen. Die Zugehörigkeit zur verfassten Anwaltschaft wird zudem als Zwangsmitgliedschaft empfunden, die Beitragszahlung als unzumutbare, ja unnötige finanzielle Belastung. Dabei wäre es wünschenswert, dass sich die Anwaltschaft der Bedeutung ihrer Selbstverwaltung für die eigene Berufsausübung ebenso bewusst wäre wie etwa die meist in staatlichen Institutionen tätigen Wissenschaftler. Selbstverwaltung kann Exekutive durch bessere Sachkunde und persönliche Überzeugungskraft effizienter machen. Das aber ist nicht alles. Vielmehr entzieht Selbstverwaltung die von ihr betroffenen Bereiche dem unmittelbaren Zugriff der staatlichen Gewalt und schafft damit Staatsferne. Für die freie Wissenschaft ist Distanz zum Staat essentiell, weil jede staatliche Einwirkung auf den Prozess der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in hohem Maße schädlich ist und deshalb zu unterbleiben hat. Weitergehend fordert das Bundesverfassungsgericht für die Freiheit der Wissenschaft daher auch, dass ein "grundsätzlich von Fremdbestimmung freier Bereich autonomer Verantwortung" garantiert sein muss. Aus der Wissenschaftsfreiheit folgen also nicht nur individuelle Abwehrrechte der einzelnen Wissenschaftler; vielmehr betont das Gericht, dass sich aus diesem Grundrecht für den Staat außerdem die Verpflichtung ergibt, durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür zu sorgen, dass die freie wissenschaftliche Betätigung soweit wie möglich unangetastet bleibt.

Anwaltschaft wie Wissenschaft: Freiheit und Staatsferne sind unerlässlich

Kann für die Anwaltschaft anderes gelten? Nein! Denn auch hier gilt es, Distanz zum Staat zu schaffen und zu erhalten. Am deutlichsten wird dieses Ziel durch die Garantie der anwaltlichen Unabhängigkeit, die nicht ohne Grund gleich in der ersten Bestimmung der BRAO geregelt ist. Die Anwaltschaft ist ein Eckpfeiler des Rechtsstaats. Damit sie ihre rechtsstaatlichen Funktionen erfüllen kann, ist es notwendig, dass sie tatsächlich die Interessen der Rechtsuchenden vertritt. Dies zu sichern, ist die vornehmste Aufgabe der anwaltlichen Unabhängigkeit. Eine Anwaltschaft, die staatlicher Einflussnahme unterworfen ist, wird nicht oder jedenfalls nicht immer das Interesse der Rechtsuchenden verfolgen, sondern eben auch die nicht selten gegenläufigen Belange des Staates. Auch wenn es im Gegensatz zur Wissenschaftsfreiheit an einer ausdrücklichen Regelung der anwaltlichen Unabhängigkeit im Grundgesetz (GG) fehlt, genießt sie gleichwohl mittelbar verfassungsrechtlichen Schutz auf der Grundlage der durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierten Berufsfreiheit. Dieser Schutz beruht zwar auf der Verfassungsnorm, die schlechthin jede Berufstätigkeit unter der Geltung des Grundgesetzes erfasst, ist aber in ihren tatsächlichen Wirkungen nicht vergleichbar mit der Berufsfreiheit etwa für Handwerker, Landwirte oder Unternehmer. Die Garantie speziell der anwaltlichen Berufsfreiheit ist nämlich auf das Rechtsstaatsprinzip bezogen und nimmt Teil an dessen zentraler objektiv-rechtlicher Bedeutung. Diese verfassungsrechtliche Aufwertung und Verstärkung der anwaltlichen Berufsfreiheit wird insbesondere im Rahmen der Angemessenheitsprüfung staatlicher Eingriffe mobilisiert.

Der Anspruch des Anwalts auf organisatorische Maßnahmen des Staates

Im Ergebnis stellt sich damit ein Grundrechtsschutz ein, der hinter dem der Wissenschaftsfreiheit nicht zurückstehen muss. Auch die Gefährdungslagen sind vergleichbar, soweit die Akteure im staatlichen Bereich agieren: So wie sich Wissenschaftler oftmals in einem Wissenschaftsbetrieb bewegen, der mit öffentlichen Mitteln eingerichtet und unterhalten wird, sind Rechtsanwälte typischerweise mit staatlicher Verwaltung und staatlicher Justiz konfrontiert. Nimmt man zu diesen beiden Umständen noch die Wertentscheidung des Grundgesetzes zugunsten eines effektiven Rechtsstaates, so spricht alles für eine aus der anwaltlichen Berufsfreiheit abgeleitete staatliche Schutzpflicht. Warum soll also der einzelnen Rechtsanwältin, dem einzelnen Rechtsanwalt nicht auch ein grundrechtlicher Anspruch gegenüber dem Staat auf solche organisatorischen Maßnahmen zukommen, die zur Wahrung seiner Aufgaben im System des Rechtsstaats unerlässlich sind? Angesichts der grundlegenden rechtsstaatlichen Bedeutung der freien Advokatur zählen hierzu gerade auch solche Organisationsformen der Anwaltschaft, die deren größtmögliche Staatsferne sicherstellen. Die gegenwärtige Ausgestaltung der autonomen Anwaltschaft genügt ohne Zweifel diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen an organisatorische Maßnahmen zur Wahrung von Staatsferne. Existenz, Agieren und Kompetenzen der Rechtsanwaltskammern mag die eine oder der andere bisweilen als belästigend oder gar belastend empfinden. Die Vorteile, der rechtsstaatliche Nutzen der autonomen Anwaltschaft überwiegen indes. Diese Erkenntnis sollte zu einem souveränen Umgang mit der anwaltlichen Selbstverwaltung führen, der durch das Bewusstsein von der Bedeutung der eigenen beruflichen Stellung im Rechtsstaat, aber auch der damit einhergehenden Verantwortung gerecht wird. Der Autor Prof. Dr. Reinhard Gaier ist Richter des Bundesverfassungsgerichts.

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