Großkanzleien

Auss­ter­bende Art Arbeit­s­tier

Constantin Baron van LijndenLesedauer: 6 Minuten
Der Begriff "Work-Life-Balance" steht hoch im Kurs und fällt in jüngerer Vergangenheit immer häufiger im selben Satz mit dem Wort "Großkanzlei". Ob es sich bei dem Versprechen humanerer Arbeitszeiten um ein bloßes Lippenbekenntnis handelt, oder ob Associates bald tatsächlich auf eine 40-Stunden-Woche hoffen dürfen, ergründet Constantin Baron van Lijnden.

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Wer bei einer Großkanzlei arbeiten will, der muss sich darauf einstellen, dies 60 Stunden und mehr pro Woche zu tun. Lange Zeit galt das als Selbstverständlichkeit auf dem Arbeitsmarkt, der Einlasspreis an Lebenszeit, den man ganz einfach zahlen musste, um bei den großen Jungs mitzuspielen. Doch mit diesem Dogma soll bald Schluss sein, glaubt man der Consultingfirma "Temporal Tanja". Deren Studie "The Next Generation Law Firm", gesponsert von der Großkanzlei Taylor Wessing, prophezeit ein baldiges Ende der Knechtschaft unter der Knute der "billable hour". Den Paradigmenwechsel einleiten soll die so genannte Generation Y, das heißt die zwischen 1979 und 1994 Geborenen, deren Eintritt in den Arbeitsmarkt kurz zurückliegt oder kurz bevorsteht. Diese frischgebackenen Volljuristen legen nun auf Dinge Wert, die früheren Jahrgängen, etwa den Babyboomern der 1950er und 1960er oder der "Generation X" der 1960er und 1970er, anscheinend nicht wichtig gewesen sein sollen. Hobbys zum Beispiel, oder Zeit mit der Familie.

Arbeiten, um zu leben – nicht umgekehrt

Und tatsächlich ist in den Antworten der Junganwälte so manches zu lesen, was in diese Richtung deutet: 96 Prozent der Befragten äußerten etwa, dass ihnen Work-Life-Balance "sehr wichtig" sei, 83 Prozent wollten niedrigere Löhne akzeptieren, wenn damit ein verringertes Arbeitsaufkommen einherginge, und wiederum 96 Prozent gaben an, dass der Wunsch, weniger zu arbeiten, durchaus nicht den Rückschluss auf fehlende Motivation erlaube. Das mag dem fachfremden Leser selbstverständlich und kaum erwähnenswert erscheinen, doch in der arbeitsversessenen Welt der Großkanzleien klingen solche Präferenzen direkt umstürzlerisch. Entsprechend wurde denn auch allerorts Stimmung gemacht: Spiegel Online sprach vom "Auslaufmodell autistischer Aktenfresser", NJW und JUVE brachten anlässlich einer zweiten Studie von Graf Pfeil mehrere Artikel, und die azur widmete der Work-Life-Balance gar ein großformatiges Special. Die Stoßrichtung war dabei stets die gleiche: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Die Großkanzleien müssten Work-Life-Balance-Modelle entwickeln, um den Vorstellungen der neuen Bewerberschar gerecht zu werden, wenn sie die hochqualifizierten Juristen nicht an den Richterdienst, das Auswärtige Amt oder unternehmensinterne Rechtsabteilungen verlieren wollten. Vereinzelt sind solche Bestrebungen auch wirklich zu erkennen – die meisten der Top-Kanzleien haben zumindest auf dem Papier Modelle mit Namen wie "Flex-Time" oder "Noerr Family". Einige Großkanzleien sehen die Möglichkeit eines Sabbatjahres vor (was allerdings in den seltensten Fällen ein Jahr dauert und tatsächlich wenige Wochen kurz sein kann), und die meisten bieten Teilzeitmodelle an.  Dabei bleibt jedoch oft unerwähnt, dass die Inanspruchnahme und vor allem die Gewährung solcher Angebote alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist.

Eine Revolution der kleinen Schritte

"Ich würde mich als Berufsanfängerin heute nicht trauen, im Bewerbungsgespräch nach Teilzeit zu fragen", sagt etwa Antje-Irina Kurz, Anwältin bei Linklaters. Die auf Bankaufsichts- und Investmentrecht spezialisierte Juristin begann ihre Karriere 1999 in der Großkanzlei. Nach der Geburt ihres ersten Kindes im Jahr 2005 bat sie ihren Arbeitgeber um einen Wechsel in Teilzeit – und ihrem Wunsch wurde entsprochen. Vergangenes Jahr wurde sie, trotz Teilzeitstelle, sogar in den Rang eines Counsel (Karrierestufe zwischen Associate und Partner, Anm. d. Red.) erhoben. Aber: Frau Kurz konnte es sich leisten. Als sie mit dem Anliegen an ihren Partner herantrat, hatte sie bereits sechs Jahre lang ihre Qualitäten unter Beweis gestellt und sich unverzichtbar gemacht. Das ist eine vollkommen andere Verhandlungsposition, als sie ein frisch examinierter Bewerber hat. Ganz so lang muss man mit der Bitte nach einer reduzierten Stundenzahl freilich nicht mehr warten. "Wenigstens zwei bis drei Jahre Vollzeit" sind jedoch die Mindestmarke, die diesem Autor in Gesprächen mit mehreren Associates aus Großkanzleien genannt wurde. Die Anstandsphase sozusagen, in der man zeigt, dass man kann, auch wenn man eigentlich gar nicht will. Ob es denn auch Leute gäbe, die direkt mit geringerer Auslastung in den Beruf starten würden, will ich von Frau Kurz wissen. "Solche Fälle hat es im Laufe der Jahre vereinzelt gegeben, aber sie sind die Ausnahme geblieben.", antwortet sie nach kurzem Überlegen. Und natürlich ist die Feuertaufe in Form einiger Vollzeitjahre nicht die einzige Hürde, die es zu nehmen gilt. Wer weniger als die Kollegen arbeiten möchte, der braucht außerdem etwas, was man in juristischer Terminologie als Rechtfertigungsgrund bezeichnen könnte. Auch hier ist die Auswahl begrenzt: Der Wunsch, abends die Briefmarkensammlung zu pflegen oder der heimlichen Berufung als Romanautor nachzugehen, dürfte vielen Partnern nicht mehr als ein müdes Lächeln entlocken. "Wir haben zum Beispiel einen Managing Associate, der in Teilzeit arbeitet, weil seine Partnerin in einem anderen Land lebt und sie sich sonst kaum sehen könnten. Der häufigste Grund ist aber sicherlich die Elternschaft, erklärt Frau Kurz.

Geschlechterrollen: Alt, aber nicht überholt?

Und wenn sie Elternschaft sagt, dann meint sie eigentlich: Mutterschaft. So muss man zumindest vermuten, denn es haben zwar nicht nur Frauen Kinder, aber es sind in Großkanzleien zu allermeist Frauen, die beruflich kürzer treten, um ihren Kindern mehr Zeit widmen zu können. Dieser Umstand, der oftmals als Benachteiligung der Frau in der Arbeitswelt empfunden wird, bedeutet spiegelbildlich durchaus auch einen Nachteil für männliche Anwälte. Die sehen sich mit ihrem doppelt exotischen Anliegen nach weniger Arbeit und mehr Zeit für die Familie nämlich leicht dem Vorurteil ausgesetzt, faul und ein Softie zu sein. Man muss sich somit fragen, was an den vielfach beschworenen Work-Life-Balance-Modellen wirklich dran ist. Ein "Sabbatjahr" bedeutet eine einmalige Auszeit, keine dauerhafte Entlastung. Kinderbetreuung ist kein Luxus, sondern eine unausweichliche Notwendigkeit, wenn man fünf Tage die Woche von neun bis neun im Büro sitzt. Angebote wie etwa das von Mayer Brown, gegen Gehaltskürzung bis zu 50 Tage Jahresurlaub zu erhalten, sind (noch) die seltene Ausnahme. Das ist eigentlich verwunderlich. Die Arbeit, die ein Associate in 60 Wochenstunden für 100.000 Euro erledigt, könnten genauso gut zwei Associates in je 30 Wochenstunden für 50.000 Euro erledigen. Vermutlich könnten sie es sogar besser, denn der menschlichen Konzentrationsfähigkeit sind Grenzen gesetzt, die nach 12 Stunden pro Tag sicherlich überschritten sind. Nicht zuletzt würde eine Kanzlei, die bereit wäre, drastisch reduzierte Stundenzahlen bei entsprechend reduziertem Gehalt anzubieten, sich einen großen Pool an durchaus qualifizierten Bewerbern erschließen, für die die Arbeit in der Großkanzlei derzeit nicht in Frage kommt – kein schlechter Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz. "Aber es gäbe auch erhebliche Reibungsverluste", erklärt Frau Kurz. "Man kann nicht im fliegenden Wechsel nachmittags den Schriftsatz übernehmen, den der Kollege am Vormittag angefangen hat, ohne sich erstmal gründlich einzuarbeiten. Der Koordinierungsaufwand und die Wahrscheinlichkeit, dass Informationen verloren gehen, werden immer größer, je mehr Leute gemeinsam an einer Sache sitzen." Wer sich mit den üblichen Großkanzlei-Zeiten dennoch nicht anfreunden kann, dem bleibt vor allem die Hoffnung auf die Teilzeit. Mit einer Auslastung von 60 bis 70 Prozent arbeitet man in der Großkanzlei ungefähr genauso viel wie andere Leute in "normalen" Jobs, verdient dabei aber meist besser. Doch der Weg dahin bedeutet, sich zunächst mehrere Jahre mit einer Stundenzahl abzumühen, die viele Bewerber schlicht nicht leisten wollen, um dann die Chance – keineswegs die Gewissheit – zu haben, die eigenen Vorstellungen durchsetzen zu können. Wenn man Kinder hat. Und eine Frau ist.

Wahrnehmung und Wirklichkeit

Vielleicht ist es zu früh, eine solche Zwischenbilanz zu ziehen. Gemäß der oben genannten Definition sind die ältesten Mitglieder der "Generation Y" heute 32. Bedenkt man, dass so eine Juristenausbildung – womöglich inklusive Doktortitel und LL.M. – gut und gerne zehn Jahre verschlingen kann, müssen sich die Personalchefs der Großkanzleien also erst seit relativ kurzem mit einer Erwartungshaltung auseinandersetzen, die von ihrem eigenen beruflichen Werdegang deutlich abweicht. Von der frühlingshaften Auf- und Umbruchsstimmung, die im Zuge der "The Next Generation Law Firm"-Studie geschaffen wurde, ist der Status Quo jedenfalls noch weit entfernt. Sicher, der Job als Associate mag heute schon besser mit dem Privatleben vereinbar sein als vor fünf oder zehn Jahren. Und ja, auch das Richter- und Syndikusdasein ist durchaus nicht so entspannt, wie man es ihm oft nachsagt. Trotz alledem bleibt zu fragen, ob die bisher eher punktuell und selektiv gewährten Möglichkeiten zur Wahrung einer Work-Life-Balance, die den Namen verdient, wirklich ausreichen werden, um eine Generation mit neuen Wünschen und Werten an sich zu binden. Wenn das Arbeitstier auszusterben droht, täte man gut daran, die Haltungsbedingungen zu verbessern – sonst ist es im Zoo nämlich bald furchtbar einsam. Mehr auf LTO.de: Vorurteil Großkanzleien: Nicht immer mit Biegen und Brechen zum Erfolg Großkanzleien können aufatmen: Keine Überstundenvergütung für enttäuschte Anwälte

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