Aufschieben ist nicht gleich aufschieben

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von Till MattesLesedauer: 5 Minuten
Der Volksmund nennt es Aufschieberitis, der Wissenschaftler Prokrastination. Das Phänomen ist bekannt aus oft intensiver Erfahrung mit Kollegen oder mit sich selbst. Doch Aufschieben ist nicht gleich aufschieben – manchmal ist es sogar gut.

Tun Sie es gerade? Prokrastinieren Sie im Büro? Indem Sie einen Text übers Prokrastinieren lesen? Das wäre ziemlich typisch. Unrecht hat, wer dies für Faulheit hält. Denn der wirkliche Prokrastinierer – im Folgenden P. genannt – ist in keinem Falle untätig. Er erledigt nur eben statt der Aktenarbeit im Fall X das Telefonat mit dem Kollegen Y zwecks Planung der Kanzlei-Party. Oder er räumt seinen Schreibtisch auf, checkt die E-Mails und prüft eingehend, ob der Latte macchiato-Fleck wirklich ganz von der gereinigten Robe verschwunden ist. Alles Dinge, die auch sinnvoll sind, aber doch eher zweitrangig.

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Die Gattung ist entscheidend

Auf den ersten Blick erscheint das gänzlich negativ und der P. als wahlweise pflichtvergessen oder entscheidungsschwach. Ob diese Sicht jedoch die richtige ist, hängt davon ab, welcher Art von Aufschiebern der P. angehört. Möglicherweise ist er nämlich ein sogenannter aktiver P. Das sind "Menschen, die eine Aufgabe absichtlich auf die lange Bank schieben. Sie genießen den Kick, den der Zeitdruck bei ihnen auslöst", sagt die Psychologin Dr. Ilona Kryl, die an der Universität Jena lehrt und zudem eine Coaching-Firma führt. Dieser P. wäre also lediglich die unauffälligere Variante der Adrenalin-Junkies, die wir sonst in Wohlstandsgesellschaften an Felswänden oder Fallschirmen hängend vorfinden. Wenn unser P. zu dieser Gruppe gehört, so kann man davon ausgehen, dass er ein erfahrener P. ist und auch eine hohe Motivation aus dem Aufschieben zieht, was seiner Arbeit zugute kommen wird. Inwiefern unter Umständen die Qualität der Arbeit und die Seelenruhe von Kollegen und Vorgesetzten leidet, muss im Einzelfall bewertet werden.

Aufschieben kann reifen heißen

Neben dem aktiven P. gibt es den positiven P. Er findet sich insbesondere in kreativen Berufen und zieht ebenfalls Gewinn aus der Nicht-Bearbeitung. "In Kreativberufen sind Pausen nötig, um Abstand von einer Sache zu gewinnen und sie nicht dauernd bewusst im Fokus zu haben. Während dieser Zeit arbeitet man unbewusst weiter an der Angelegenheit", hebt Kryl die Sonnenseite des Phänomens hervor. Ähnliches dürfte auch für den Juristen gelten, der ein Problem nach einer eingehenden Analyse erst einmal aus dem Fokus nimmt. Demnach kann das Aufschieben auch einem Reifungsprozess gleichen. Noch ein Grund dafür, dieses Phänomen gerade nicht als Faulheit zu bezeichnen. Mit dieser positiven Einschätzung ist man ganz nah an der ursprünglichen Bedeutung von Prokrastination, wie die Psychologin erklärt: "Der Begriff stammt aus dem lateinischen procrastinus und bedeutet, etwas auf morgen zu verschieben. Das war  ursprünglich durchaus positiv gemeint. Es hieß, eine Entscheidung zu vertagen, bis die Sterne besser standen oder man mehr Informationen hatte, die eine fundiertere Entscheidung erlaubten."

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2/2: Verantwortung bei den Vorgesetzen

Heute ist Prokrastination vor allem als ein Problem bekannt, das wächst und die Wissenschaft verstärkt beschäftigt. Ein Aspekt ist hierbei ist die Frage, warum Menschen wie unser P. überhaupt tun, was sie tun, oder besser lange nicht tun, was sie tun sollten. Die Antwort des P. auf diese Frage, ist wahrscheinlich ein trotzig oder resigniert hingeworfenes ,so bin ich eben.' Doch das allein erklärt die Lage nicht. "Etwa ebenso stark wie die Persönlichkeit sind andere Faktoren für die Entstehung verantwortlich", sagt Kryl. "So wird ein Mitarbeiter eine Aufgabe eher aufschieben, wenn diese unklar definiert ist oder sehr monoton." Damit liegt ein Gutteil der Verantwortung auch auf den Schultern der Vorgesetzten. Es ist also eventuell zu einfach, wenn der Partner sich über den neuen Associate P. im Team aufregt und ihn innerlich oder offen als underachiever einstuft. Um bei Berufseinsteigern die Prokrastinationsgefahr zu minimieren, rät die Psychologin dazu, Ziele klar zu vermitteln, Fristen zu setzen und eine Feedback-Kultur zu pflegen.

Selbständige besonders gefährdet

Helfen dürfte allen Beteiligten auch, wenn der Partner einschätzen kann, ob eine persönliche Ursache für P.s Aufschieben vorliegt, etwa Perfektionismus oder Versagensangst. Dies sind zwei von der Forschung für das Phänomen angeführte Gründe. Sollte der P. nach dem Studium eine eigene Kanzlei eröffnet haben, dann hat er es ungleich schwerer. Gerade bei Selbständigen ist Prokrastination oft ein besonders großes Problem. Ihnen fehlt der helfende Druck von außen - durch Vorgesetzte oder andere Strukturen. Zudem verstärken Ablenkungsmöglichkeiten den Trend. Und damit sind wir bei einer Hauptursache angelangt, warum das Problem in den letzten Jahren zugenommen hat und vermutlich weiter zunehmen wird: der modernen Medienkultur. Wäre P. ein Ziegenhirte auf der Sommeralm, stünde ihm wenig zur Verfügung, um sich von seinen Aufgaben als Hüter und Melker abzulenken. Als Akademiker auf der Höhe der modernen Medientechnik sind dagegen endlose Möglichkeiten vorhanden.

Leistungsethik versus Genuss-sofort-Mentalität

Diskutiert und erforscht wird Prokrastination übrigens vor allem in starken Ökonomien wie den USA, Kanada, Deutschland und den Niederlanden. "Diese wirtschaftlich sehr erfolgreichen Länder sind stark geprägt von protestantischer Leistungsethik, die Normerfüllung und Arbeitsintensität einen hohen Stellenwert beimisst. Da scheint Prokrastination eigentlich kein drängendes Problem zu sein, das der Erforschung bedarf", sagt Kryl, "doch gleichzeitig sind diese Länder am stärksten von einer Genuss-sofort-Mentalität betroffen." Wer alles auf der Stelle genießen will, wird schwerlich die Kraft oder das haben, einer verlockenden Ablenkung zu widerstehen., statt auf ein Ziel hinzuarbeiten, bei dem die Belohnung erst deutlich später eintritt. Doch es gibt  auch Wege aus der Prokrastination hinaus. "Vielen hilft ein Zeitmanagement-Training", so Kryl. Entsprechend rät auch die Prokrastinationambulanz der Universität Münster dazu, kleinschrittig vorzugehen: Nach Auswahl einer problematische Aufgabe beobachtet der P. sich ein paar Tage. So erkennt er die Bedingungen, unter denen er die Sache angeht oder liegen lässt. Dann bestimmt er kleinschrittig und genau die nächsten Aktionen, um voranzukommen. Im Weiteren raten die Münsteraner raten dazu, "pro Tag einen genauen Zeitpunkt, eine klare Zeitspanne und einen konkreten Ort festzulegen, an dem dieser nächste Schritt getan werden soll". Unser P. muss zudem darauf achten, sich nicht zu viel vorzunehmen. Um den geplanten Schritt nicht zu vergessen oder zu verdrängen, soll er sich Erinnerungshilfen ausdenken. Schließlich evaluiert P. die Maßnahme und gönnt sich eine Belohnung, auch wenn nicht alles perfekt geklappt hat. In zahlreichen Fällen könnten diese oder andere Trainingstipps nicht ausreichen. "Eine reine Technik hilft den Wenigsten, weil dann der individuelle Aspekt weniger Berücksichtigung findet", sagt Kryl. "Häufig gilt es Bedenken, Wert- und Sinnfragen Raum zu geben, um langfristig und nachhaltig vorwärts zu kommen oder eben gezielt zu prokrastinieren." Dennoch ist es sicherlich sinnvoll, dem Problem zunächst einmal mit den geschilderten Maßnahmen zu begegnen. Vielleicht hilft das ja schon. Und wenn nicht, sucht P. eben professionelle Hilfe. Nur den Termin, den sollte er im eigenen Interesse nicht allzu lange aufschieben.

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