Anwaltsberatung in Gebärdensprache

Rechtliches Gehör für Taube

von Philipp SümmermannLesedauer: 6 Minuten
Gehörlose und Schwerhörige müssen im juristischen Umfeld hart kämpfen. Wie soll man seinen Fall ohne Worte präzisieren? Ihnen hilft Judith Hartmann. Sie ist die einzige gehörlose Rechtsanwältin Deutschlands und kennt die Schwierigkeiten, mit denen ihre Mandanten zu kämpfen haben. Wie sieht der Alltag in der Kanzlei und vor Gericht aus, wenn das gesprochene Wort nichts bedeutet?

Mündliche Verhandlung am Sozialgericht Hamburg. Ein Streit mit einer Krankenkasse, ein Routinefall für Anwältin Judith Hartmann. Alle Akten liegen ausgebreitet vor ihr, sie schaut nach vorne, zur Richterbank. Die Beweisaufnahme ist abgeschlossen, es müssen nur noch die Anträge gestellt werden. Hartmann bewegt ihre Lippen und macht mit deutlicher Gestik ihre Position deutlich. Dabei kommt kein Wort über ihre Lippen. Judith Hartmann ist die wohl einzige gehörlose Rechtsanwältin in Deutschland. Sie verständigt sich in Gebärdensprache. Was sie sagt, übersetzt eine Dolmetscherin simultan. Sie sitzt ihr gegenüber. "Dass die Dolmetscherin mit dem Rücken zur Richterbank sitzt, führt manchmal zu kleinen Irritationen", gibt die Anwältin zu. Üblicherweise sitzen Dolmetscher schließlich neben den Parteien. "Das klärt sich mit einer kurzen Erklärung aber schnell." Einige Richter fragen auch nach, ob sie zu schnell für die Dolmetscherin sprechen. Ansonsten mache das Übersetzen aber keinen Unterschied bei den Verhandlungen: "Im Sozialrecht wird üblicherweise nicht so hektisch verhandelt wie in Strafprozessen, wo die Stimmung schon mal angespannt sein kann."

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Eigene Kanzlei, externer Telefon-Dolmetschdienst

Als gehörlose Anwältin ist Judith Hartmann eine Ausnahme. Der Deutsche Gehörlosen-Bund schätzt die Zahl gehörloser Menschen auf ein Promille der Bevölkerung, also rund 80.000 Menschen. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Erst seit den achtziger Jahren können Gehörlose an speziellen Schulen Abitur machen. Die Zahl gehörloser Studenten steigt zwar stetig, ist aber bis heute gering. Nur rund 40 bis 50 sollen pro Jahr ein Studium anfangen. Auch Judith Hartmann machte zuerst eine Ausbildung zur Vermessungstechnikerin, bevor sie nach einem halben Jahr in dem Beruf das Abitur nachholte, um Jura zu studieren. Sinnlos war die technische Ausbildung aber nicht: "Auch dort spielt logisches Denken eine Rolle, man kann nicht wild durcheinander vorgehen."

Mittlerweile ist die 43-Jährige mit den braunen Locken und dem freundlichen Lächeln Fachanwältin für Sozialrecht, seit Juni 2012 hat sie ihre eigene Kanzlei in Hamburg. Ihre Gehörlosigkeit zeigt sich dort nur in Details. Wenn jemand anruft, blinkt eine kleine Lampe zwischen Bildschirm und Telefon. Gespräche führt sie über einen Telefon-Dolmetschdienst. "Das ist eine große Unterstützung für mich. Manchmal kann ja doch ein kurzer Anruf etwas einfacher klären", sagt sie. "Und wenn auf eine E-Mail nicht reagiert wird, kann man so auch eben nachfragen."  Der Dolmetscher sitzt bei einer externen Firma, er übersetzt entweder in Gebärdensprache über eine Webcam oder als Schriftdolmetscher. Dann tippt sie ihren Text am Computer und kann umgekehrt mitlesen, was die Gegenseite am Telefon spricht.

Viele gehörlose Mandanten und ein Sieg vor dem BSG

Dass im juristischen Alltag vieles über Schriftsätze läuft und Anwälte noch zur aussterbenden Spezies der Fax-Nutzer gehören, macht für Hartmanna alles einfacher. Auch E-Mails, für sie ein "Segen", nutzt sie viel.  Für alles weitere greift sie auf Gebärdensprachdolmetscher zurück: Bei ihren mündlichen Prüfungen an der Uni, bei der Vereidigungszeremonie der Anwaltskammer und bei Mandantengesprächen. Hartmann betreut auch hörende Mandanten. Die kommen aus den unterschiedlichsten Gründen zu ihr: Teils durch Zufall oder über Empfehlungen, teils explizit wegen ihrer Behinderung und dem damit größeren Verständnis für Einschränkungen. Dementsprechend oft berät Hartmann bei Fragen zu Erwerbsminderungsrente, Rentenansprüchen und Reha-Maßnahmen. Der größte Teil ihrer Mandanten aber ist selbst gehörlos oder schwerhörig.  Das erleichtert die Kommunikation. Beide Seiten sprechen über Gebärden miteinander, mal persönlich, mal per Skype. Häufig drehen sich die Gespräche um Kostenübernahmen für Hilfsmittel. Gehörlose und Schwerhörige brauchen besondere Telefone, Türklingeln und Wecker, da sie auf Anlagen mit Lichtsignalen angewiesen sind. Weil die Geräte teuer sind, kommt es immer wieder zu Streit mit den Krankenkassen. So auch im Juni, als Judith Hartmann vor dem Bundessozialgericht (BSG) erreichen konnte, dass Krankenkassen die Kosten für Rauchmelder mit Lichtsignal erstatten müssen. Vier Jahre hatte sich das Verfahren hingezogen. Die Richter in Kassel führten aus, dass Rauchmelder die elementare Lebensführung zuhause ermöglichten und so das Grundbedürfnis des selbständigen Wohnens sicherstellten. Ein Grundsatzurteil und ein Sieg für Judith Hartmann.

Ein häufiges Thema für die Hamburger Anwältin  ist auch die Kostenübernahme für Dolmetscher, gerade bei gehörlosen Studenten. Eigentlich müssten die Sozialhilfeträger die Kosten tragen. Da das Sozialgesetzbuch aber nur unbestimmt von Hilfeleistungen zur "schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf" spricht, kommt es immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten. "Teilweise ist sogar das menschliche Verständnis auf der Gegenseite da, aber die Vertreter der Sozialhilfeträger  sehen sich aus rechtlichen und finanziellen Gründen an einer Kostenübernahme gehindert", sagt Hartmann. So verweigerte der Landschaftsverband Rheinland einer gehörlosen Studentin einen Dolmetscher, weil sie bereits eine Berufsausbildung abgeschlossen hatte. Ein Studium im Anschluss sei nicht mehr "angemessen". Die Sache ging vor Gericht, in zweiter Instanz siegte Hartmann vor dem Landessozialgericht NRW. Als sie selbst studierte, war das Hauptproblem nicht die Kostenübernahme. Damals gab es schlichtweg viel zu wenige Dolmetscher. Erst seit 1993 können Gebärdendolmetscher in Deutschland eine eine akademische Ausbildung absolvieren. Ein Jurastudium spielt sich zwar zu großen Teilen am Schreibtisch ab, rein über Büchern sitzt man aber trotzdem nicht. Ohne Dolmetscher waren Vorlesungsbesuche für sie Zeitverschwendung, sagt Hartmann. "Ich hatte eine Kommilitonin, die mir ihre Mitschriften als Kopien zur Verfügung gestellt hat. Das hat mir sehr geholfen, mit den Büchern alleine wäre es noch schwerer geworden." Aber auch so entgingen ihr viele Randinformationen aus Vorlesungen oder Gesprächen auf den Uni-Fluren. "Da ist in den letzten 20 Jahren unglaublich viel passiert", sagt Esther Ingwers. "Auch wenn noch viel zu tun ist."

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"Es gibt kein Gehörlosenland mit einem eigenen Rechtssystem"

Ingwers ist Diplom-Dolmetscherin, als eine der ersten absolvierte sie das Dolmetscher-Studium in Hamburg. Regelmäßig arbeitet sie mit Judith Hartmann zusammen, übersetzt Gespräche mit Mandanten und vor Gericht. Vor Verhandlungen treffen sie sich, um den Fall zu besprechen und die Terminologie zu klären. "Anders als bei Fremdsprachendolmetschern ist es bei uns ja so, dass es kein ‚Gehörlosenland‘ gibt, das ein eigenes Rechtssystem haben könnte. Dementsprechend ist auch nie eine Terminologie für ein Rechtssystem in einem ‚Gehörlosenstaat‘ entwickelt worden", erklärt Ingwers. Eine Eins-zu-Eins Übersetzung sei daher schwierig. "Gleichwohl ist es absolut möglich, alles in Gebärdensprache auszudrücken." Gebärdensprache ist eine visuelle Sprache, auch von der Grammatik her. Wie auf einer Bühne werden Handlungen dargestellt. Das verlangt bei Übersetzungen vor Gericht teilweise besondere Nachfragen der Dolmetscher. "Wenn es zum Beispiel um einen Verkehrsunfall geht, kann ich in Gebärdensprache eine Kurve nicht neutral ausdrücken. Es ist entweder eine Rechtskurve oder eine Linkskurve", erklärt Ingwers. "Gesprochene Sprache kann sehr vage bleiben, Gebärdensprache muss an der Stelle konkreter werden. Wenn ich diese Informationen nicht habe, dann wird es mitunter falsch. Das ist vor Gericht fatal." Wenn sie für gehörlose Prozessbeteiligte übersetzt, kann Ingwers viele juristische Begriffe umschreiben. "Das ist aber unpassend für eine gehörlose Juristin, die darauf angewiesen ist, dass diese Fachterminologie, die sie ja kennt und beherrscht, auch gebracht wird." Einen Großteil des juristischen Vokabulars gibt es mittlerweile auch in Gebärdensprache, wenn etwas fehlt, müssen Ingwers und Hartmann sich gesondert absprechen. Die Entwicklung der juristischen Gebärdensprache geht maßgeblich auf Judith Hartmann zurück. Als erste gehörlose Studentin und Referendarin war sie von Beginn an auf präzise Terminologie angewiesen: "Ich habe mit den Dolmetscherinnen spezielle Gebärden abgesprochen und die Hintergründe hierfür erklärt. Damit verständlich ist, warum eben Eigentum und Besitz unterschiedlich gebärdet werden müssen. Eine Verwechslung wäre im Examen tödlich gewesen." Noch ist Hartmann die einzige gehörlose Anwältin in Deutschland. In anderen Ländern ist die Inklusion schon viel weiter. Ob Hartmann anderen Gehörlosen zum Jurastudium raten würde? "Warum nicht? Wenn jemand die nötigen Voraussetzungen mitbringt."

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