VIG und Lebensmittelklarheit: Nun soll der Ver­brau­cher ent­scheiden

Dr. Johannes Müller

27.07.2011

Verbraucher werden aktiviert und können Lebensmittel mit angeblichem Täuschungspotential melden. Die Unternehmen sehen sich an den Pranger gestellt. Zudem soll das bald reformierte VIG den Zugang zu Behördeninformationen erleichtern. Ob der Gesetzgeber hier nicht über das Verbraucherschutzziel hinausgeschossen ist, beleuchtet Johannes Müller.

Die Seite "lebensmittelklarheit.de" ist Teil der Initiative des Verbrauchschutzministeriums "Klarheit und Wahrheit bei der Kennzeichnung und Aufmachung von Lebensmitteln". Nach Angaben des Ministeriums bildet sie zukünftig die "Grundlage für die Ermittlung der Verbraucher- und Unternehmerwahrnehmung zur Kennzeichnung und Aufmachung von Lebensmitteln".

Die Resonanz auf die Internetplattform war zumindest in den ersten Tagen überwältigend. Unmittelbar nach der Freischaltung war die Webseite aufgrund zahlreicher Anfragen vollkommen überlastet.

Der erste Ansturm hat sich mittlerweile verflüchtigt und die Seite offenbart neben allgemeinen Kennzeichnungsinformationen auch einen produktbezogenen Bereich, in dem einzelne Lebensmittel aufgeführt sind, denen "Täuschungspotential" zukommen soll. Der Verbraucher meldet sich zu Wort: Sei es die Sylter Salatsoße, die Sylt nie gesehen hat, oder die marinierte Hähnchenbrust, die nicht aus einem einzelnen Stück besteht.

Täuschung oder nicht – Eigentlich entscheidet die Verkehrsauffassung

Die Lebensmittelwirtschaft übt heftige Kritik. Nach Ansicht des Bundesverbandes für Lebensmittelkunde und Lebensmittelrecht e.V. (BLL), kann eine Täuschung nicht vorliegen, wenn ein Lebensmittelunternehmen sich rechtstreu verhält, seine Produkte also im Einklang mit nationalen oder auch europäischen Regeln kennzeichnet.

Der Verbraucher aber kennt die Gesetze und Verordnungen nicht, die regeln, wann eine marinierte Hähnchenbrust eine Hähnchenbrust ist. Er mag sich also getäuscht fühlen, obgleich der Hersteller sich im Rechtssinne völlig korrekt verhalten hat. Und während er sich früher nur getäuscht fühlte und den Hersteller möglicherweise dadurch abstrafte, dass er das Produkt nicht noch einmal erwarb, kann er die gefühlte Täuschung nun öffentlich machen. Mit Nennung des Unternehmens und des Produkts, um das es geht. Es liegt nahe, dass die Unternehmen nicht nur erhebliche Imageschäden, sondern auch messbare Umsatzrückgänge befürchten, obgleich sie sich nicht inkorrekt verhalten haben. Es steht zu befürchten, dass der von Bundesministerin Ilse Aigner (CSU) beabsichtigte Dialog zwischen Verbrauchern und Wirtschaft zu einem Streitgespräch wird.

Unstreitig sollte sein: wenn eine Täuschung in der Lebensmittelkennzeichnung vorliegt, ist eine Information der Verbraucher hierüber grundsätzlich nicht zu kritisieren. Doch wann liegt eine solche nachweisliche Irreführung vor und wer hat hierüber zu entscheiden?

Leitsätze als vermeintliche Verkehrsauffassung

Das Problem ist, dass die rechtlichen Vorgaben und die tatsächliche Verbrauchererwartung in Bezug auf ein Produkt häufig wenig miteinander gemein haben.

Was die Verbraucher unter einer bestimmten Kennzeichnung erwarten dürfen oder was in ein konkretes Produkt hinein darf, beschreiben die so genannten Leitsätze der Lebensmittelbuchkommission. Dieses Gremium besteht aus Vertretern der Industrie, der Forschung, der Lebensmittelüberwachung sowie des Verbraucherschutzes, also Fachleuten.

Die von diesen entwickelten Ausführungen beschreiben, was die "Verkehrsauffassung" ist. Die Leitsätze haben zwar keine Rechtsnormqualität, werden aber als "qualifizierte Sachverständigengutachten" für die Bestimmung der Verkehrsauffassung herangezogen. Sie entfalten eine Vermutungswirkung dafür, was der Kunde unter einem bestimmten Lebensmittel versteht. Der Verbraucher auf der Straße wurde hierzu jedoch niemals befragt.

Der Verbraucher ist gut unterrichtet, aufmerksam und kritisch

Es existieren zudem zahlreiche nationale und europäische Gesetze, die die Kennzeichnung von Lebensmitteln bestimmen. So regelt etwa die Fruchtsaftverordnung (FrSaftV), dass Getränke als "Fruchtsaft" bezeichnet werden können, wenn der Inhalt nur aus Früchten gewonnen wurde. Für "Fruchtnektar" gilt dies nicht. Diesem kann neben Wasser auch reichlich Zucker oder Honig zugesetzt werden.

Dem unkundigen Verbraucher suggeriert der Begriff "Nektar" indes etwas Gehaltvolleres als der Begriff "Saft". Er könnte sich also getäuscht fühlen. Bei der rechtlichen Beurteilung legen die Gerichte jedoch nicht den unmündigen und flüchtigen Verbraucher als Maßstab zugrunde. Vielmehr zählt bei der Einschätzung, ob eine Kennzeichnung in die Irre führt, der angemessen gut unterrichtete, aufmerksame und kritische Durchschnittsverbraucher.

Nach Einschätzung der Rechtsprechung kann diesem Durchschnittsverbraucher zugemutet werden, dass er sich die Kennzeichnung genau durchliest, wenn er sich wegen der Aufmachung des Produktes über dessen Inhalt nicht sicher ist.
Ob der "Otto-Normalverbraucher" im Supermarkt das genauso sieht, steht auf einem anderen Blatt.

Noch mehr Auskunft durch das Verbraucherinformationsgesetz

Einen weiteren Informationsmehrwert für Verbraucher soll die Novellierung des Verbraucherinformationsgesetzes (VIG) bringen. Die Bundesregierung hat kürzlich einen Entwurf im Kabinett angenommen.

Während der Anwendungsbereich des Gesetzes bislang auf Lebens- und Futtermittel beschränkt war, soll das Gesetz bald auch für Gebrauchsgegenstände gelten. Zudem versucht der Gesetzgeber, einem Kernproblem des bestehenden Gesetzes zu begegnen. Es hat sich nämlich gezeigt, dass nicht der interessierte Bürger die Informationsansprüche erhebt, sondern hauptsächlich Verbraucherorganisationen und Journalisten nach Behördendaten fragen. Hier soll ein vereinfachtes Antragsverfahren mehr Bürgernähe schaffen; das Auskunftsverlangen kann nun per Email oder gar mündlich gestellt, einfache Anträge sollen sogar kostenlos bearbeitet werden.

Auch erfolgen eine Reihe von Klarstellungen für die möglichen Ablehnungsgründe eines Auskunftsverlangens. Hiermit soll den Behörden die bislang oft schwierige Rechtsanwendung erleichtert werden.

Abschaffung der Unschuldsvermutung und Geschäftsgeheimnisse

Gleichzeitig beschneidet der Gesetzgeber eine Reihe von bisherigen Verfahrensrechten der Unternehmen, über die Auskunft begehrt wird. Der Entwurf weicht die Unschuldsvermutung auf, wenn er es möglich machen will, dass Informationen über mögliche Rechtsverstöße oder denkbare Risiken für die menschliche Gesundheit schon herausgegeben werden können, bevor ein Straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtliches Verfahren einen solchen Verstoß rechtskräftig feststellt.

Auch Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sollen zukünftig weniger geschützt werden: Das geplante VIG sieht einen Katalog von Informationen vor, die nicht mehr der Vertraulichkeit unterliegen sollen. Hierzu gehören etwa Daten, die von der Lebensmittelüberwachung festgestellte Grenzwertüberschreitungen betreffen.

Zwischen den Informations- und Geheimhaltungsinteressen soll zukünftig mithilfe einer allgemeinen Abwägungsklausel entschieden werden. Ein Vergleich mit anderen Bereichen des Informationszugangs, wie etwa dem Umweltinformationsgesetz, zeigt, dass ein solcher Abwägungsvorgang zu verhältnismäßigen Entscheidungen zwischen den widerstreitenden Interessen führen kann.

Die Nennung von "schwarzen Schafen" wird zwingend

Schließlich sollen in Zukunft die Verbraucher aktiver und leichter über "Missstände" informiert werden. Der § 40 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) wird dementsprechend geändert.

Bisher konnte die zuständige Behörde nur in begründeten Ausnahmefällen und unter Geltung der Verhältnismäßigkeit eine Lebensmittelwarnung aussprechen. Die Vorschrift ist bislang auch nicht zwingend, sondern beinhaltet die Vorgabe "soll…informieren". Nach den Plänen des Ministeriums wird nun im Gesetz festgelegt, dass bestimmte herausgehobene Verstöße zwingend zu veröffentlichen sind, unabhängig davon, ob dies zur Gefahrenabwehr notwendig ist. Ross und Reiter müssen also benannt werden.

Gerade diese Namensnennung birgt enormes Konfliktpotential zwischen Politik, Behörden, Verbrauchern und der Industrie. Die Hersteller fühlen sich an den Pranger gestellt und fürchten enorme Umsatzrückgänge. Und das, obwohl sie sich doch an die Vorschriften halten, die angeblich die Verbrauchererwartung widerspiegeln. Es darf bezweifelt werden, ob ungerechtfertigte Anschuldigungen in der Öffentlichkeit durch freisprechende Strafverfahren kompensiert werden können.

Dr. Johannes Müller ist Rechtsanwalt bei Wilmer Cutler Pickering Hale and Dorr LLP in Frankfurt.

 

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Zitiervorschlag

Dr. Johannes Müller, VIG und Lebensmittelklarheit: Nun soll der Verbraucher entscheiden . In: Legal Tribune Online, 27.07.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3867/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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