EGMR zu gestrandeten Flüchtlingen am Moskauer Flughafen: Gefangen in der Tran­sit­zone?

von Dr. Markus Sehl

19.04.2018

Auf Matratzen und von UN-Essenspaketen lebten vier Flüchtlinge über Monate im Transitbereich am Flughafen Scheremetjewo. Sie wurden dort festgehalten, so ihre Anwälte vor dem EGMR. Die russische Regierung hält das für eine Inszenierung.

Am Mittwoch verhandelte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über vier Anträge von Geflüchteten gegen Russland (Beschw.-Nr. 61411/15, 61420/15, 61427/15 und 3028/16).

Die vier Geflüchteten aus dem Irak, den Palästinensergebieten, Somalia und Syrien reisten alle unabhängig voneinander über den Moskauer Flughafen Scheremetjewo. Die russischen Behörden verweigerten ihnen die Einreise wegen Unregelmäßigkeiten in ihren Reisedokumenten.

Daraufhin strandeten die Kläger im Transitbereich des Moskauer Flughafens. Drei von ihnen verbrachten dort fünf beziehungsweise acht Monate, der Kläger aus Somalia hing dort beinahe zwei Jahre fest. Erst im März 2017 konnte er den Flughafen verlassen, er reiste zurück in die somalische Hauptstadt Mogadischu, nachdem es ihm aussichtlos erschien, weiter auf einen Flüchtlingsstatus in Russland zu warten. Die Kläger aus Irak und Syrien wurden im Rahmen eines Resettlement-Programms der UN in Schweden und Dänemark untergebracht.

EGMR zuvor: Festhalten am Flughafen unter unmenschlichen Bedingungen

Die klagenden Flüchtlinge sehen ihr Recht auf Freiheit aus Art. 5 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Auch rügen sie für die Zeit im Transitbereich des Flughafens eine Verletzung von Art. 3 EMRK wegen unmenschlicher und herabwürdigender Behandlung. Dort mussten sie auf Matratzen in dem dauerbeleuchteten und lauten Bereich des Flughafens schlafen, ohne Duschmöglichkeiten. Versorgt wurden sie in dieser Zeit durch Essenspakete der UN.

In einer Kammerentscheidung aus März 2017 hatte der EGMR bereits mit sechs zu einer Stimme eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK festgestellt. Die Kläger seien am Flughafen gegen ihren Willen festgehalten worden. Für die Einschränkung ihrer Freiheitsrechte habe es auch an einer gesetzlichen Grundlage unter nationalem russischen Recht gefehlt.

Die Kammer hatte außerdem entschieden, dass auch eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorgelegen habe. Die Menschen seien für eine längere Zeit unter "unzumutbaren Bedingungen" festgehalten worden.

Pässe entzogen: Kein Vor und kein Zurück für die Flüchtlinge

Auf russischen Antrag hin wurde die Rechtssache an die Große Kammer des EGMR verwiesen, die wiederum nahm sie im September 2017 an. Es war überdies nicht die erste Entscheidung einer EGMR-Kammer zum Festhalten in Transitbereichen und den Lebensbedingungen dort: Bereits 2008 hatte der EGMR gegen Belgien entschieden.

In der Verhandlung am Mittwoch vor der siebzehnköpfigen Großen Kammer bekräftigten die Anwältinnen der Geflüchteten, dass diese "den Aufenthalt am Flughafen nicht selbst gewählt haben und nicht frei waren, ihn zu verlassen". Sie argumentierten vor den Richtern in Straßburg, dass die Asylsuchenden auf dem Moskauer Flughafen "erhebliche Schwierigkeiten hatten, Zugang zum Asylverfahren zu bekommen." Es habe am Flughafen an Informationen, Mitarbeitern und Büros der zuständigen Behörden gefehlt. Die Kläger hätten Monate auf eine Anhörung warten müssen. Die russischen Grenzschützer hätten allerdings die Pässe der vier eingezogen – ohne formales Verfahren, so die Anwältinnen in der mündlichen Verhandlung.

Am Beispiel des Geflüchteten aus Irak verdeutlichten sie die aus ihrer Sicht ausweglose Situation der Männer im Transitbereich des Flughafens: Nachdem der Pass eingezogen worden war, habe es für den Iraker kein Vor und kein Zurück mehr gegeben. Die russischen Behörden setzten sie im Transitbereich fest, die Pässe für eine Weiterreise waren weg und die Rückkehr in ihre Länder sei aufgrund der gefährlichen Situation im Irak beziehungsweise in Somalia ausgeschlossen gewesen.

Auch hätten sich Fluggesellschaften geweigert, die Männer in andere sichere Staaten auszufliegen - "wegen ihrer Situation und ihrer Herkunftsstaaten". Der Mann aus Syrien hatte dabei eine regelrechte Odyssee hinter sich, die ihn von seinem Heimatland nach Russland in die Türkei führte, bevor er schließlich wieder nach Moskau zurückgeschickt wurde.

Russischer Vertreter: "In keiner Weise festgehalten"

Die Vertreter der russischen Regierung hielten dagegen, dass die Männer die Asylanträge in Moskau nur "zum Schein angefertigt" hätten. Außerdem hätten sie die wesentlichen Formalitäten des Asylverfahrens nicht eingehalten. In der Verhandlung am Mittwoch kritisierte der russische Vertreter, dass die Anwältinnen der klagenden Männer neue Aspekte anführen würden, die bislang in dem Verfahren keine Rolle gespielt haben, um die Sympathie des Gerichts zu gewinnen. Das betreffe insbesondere die Verfolgungsgeschichten der Männer. Auch hätten sie bereits Gelegenheit gehabt, bei der Ankunft in anderen Staaten Asylanträge zu stellen – was diese jedoch versäumt hätten.

"In allen Fällen wurden Kläger am Flughafen Moskau Scheremetjewo zwar zurückgewiesen, aber sie wurden dort in keiner Weise festgehalten", sagte der Vertreter am Mittwoch in der Verhandlung. Sie hätten in ihre Heimatländer zurückkehren oder in jeden Drittstaat reisen können, der sie aufgenommen hätte. Auch hätten sie keinen Kontakt zu den diplomatischen Vertretungen ihrer Länder in Moskau gesucht.

Die Anwältin Daria Trenina zeigt sich nach der Verhandlung am Mittwoch zuversichtlich und sagt gegenüber LTO: "Wir glauben, dass wir hier einen starken Fall haben und hoffen, dass die Große Kammer die Entscheidung der Kammer bestätigen wird."

Die Große Kammer des EGMR wird nach der mündlichen Verhandlung nun ihre Entscheidung treffen und zeitnah verkünden.

Zitiervorschlag

Markus Sehl, EGMR zu gestrandeten Flüchtlingen am Moskauer Flughafen: Gefangen in der Transitzone? . In: Legal Tribune Online, 19.04.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28163/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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