Vor 25 Jahren wurde das Übereinkommen über die Rechte des Kindes von der UN verabschiedet. Viele Vorgaben sind seitdem auch deutsches Recht. Aber das reicht nicht, meint Beate Rudolf vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Sie fordert nicht nur abstrakt mehr politische Debatte und mehr Teilhabe für Kinder. Vielmehr müssten vor allem Richter speziell für den Umgang mit den Kleinen geschult werden.
Der diesjährige Friedensnobelpreisträger Kailash Satyarthi hat es auf den Punkt gebracht. "Wir brauchen eine Kultur der Kinderrechte!" Ja, die brauchen wir und zwar auch in unserem Rechtsstaat Deutschland. Kinder und ihre Rechte sind selbst in einem hoch entwickelten Gemeinwesen besonders zu fördern und zu schützen.
Berichte und Untersuchungen zeigen aber ein nicht ausreichendes, teilweise sogar mit strukturellen Mängeln behaftetes Schutzniveau bei den Kinderrechten. Die Missstände reichen von Kinderarmut durch Elternarmut über unzureichenden Schutz von Minderjährigen vor sexuellem Missbrauch, ungleichen Zugang von Kindern mit Migrationsgeschichte zu Bildung, Gewalt gegen Kinder, insbesondere Mädchen, mit Behinderungen bis hin zur Verhängung von Abschiebungshaft gegen minderjährige Flüchtlinge. Das sollte nachdenklich stimmen.
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN), deren Verabschiedung sich am 20. November zum 25. Mal jährt, ist zwar kein Allheilmittel zur Lösung aller Probleme von Kindern und Jugendlichen. Aber sie erlegt dem Staat verbindliche Handlungsaufträge auf, konkrete positive Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Zugleich beschränkt sie zugunsten der Rechtsgüter von Kindern den politischen Gestaltungsspielraum des Staates. Und sie gibt Kindern subjektive Rechte an die Hand, um diese Pflichten durchzusetzen.
Zögerliche Anwendung der UN-Vorgaben
Gerade letzteres war hierzulande lange umstritten und wurde erst vor vier Jahren endgültig klargestellt, als die damalige Bundesregierung die Vorbehalte zurücknahm, die Deutschland bei der Ratifikation der Kinderrechtskonvention eingelegt hatte. Die in Deutschland am 5. April 1992 in Kraft getretene Konvention ist nun unmittelbar geltendes Recht für alle staatliche Gewalt in Bund, Ländern und Gemeinden. So wurde beispielsweise in § 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung infolge der Konvention gesetzlich verankert. Außerdem ist sie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur Auslegung der im Grundgesetz garantierten Grundrechte heranzuziehen.
Dennoch wird die Kinderrechtskonvention von Verwaltung und Gerichten noch immer nicht selbstverständlich im Alltag angewendet. Und obwohl die Konvention ausdrücklich deren Bekanntmachung verlangt, kennen viele Kinder in Deutschland ihre Rechte genauso wenig wie die Personen, die zur Unterstützung von Kindern berufen sind – Eltern, Lehrkräfte und Sozialarbeiter. Erst wenn sich das alles ändert, ist eine Kultur der Kinderrechte in Deutschland verwirklicht.
Kinder sind Träger von Menschenrechten, nicht nur Schutzobjekte
Die Kinderrechtskonvention verlangt einen Paradigmenwechsel: weg von der Behandlung von Kindern als Objekte des Schutzes hin zur ihrer Anerkennung als Träger von Menschenrechten. Zentral ist dafür das Kindeswohl gemäß Art. 3 der Kinderrechtskonvention, welches alle staatlichen und privaten Einrichtungen bei Maßnahmen, die Kinder betreffen, vorrangig berücksichtigen müssen.
Was das Wohl des Kindes ist, können nicht einfach die Erwachsenen bestimmen. Vielmehr muss das betroffene Kind angehört; seine Meinung angemessen sowie entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigt werden. Der UN-Kinderrechtsausschuss bringt deshalb neben dem Wohl des Kindes in Art. 12 der Konvention auch dessen Recht auf Gehör in einen systematischen Zusammenhang. Zudem leitet er hieraus auch die umfassenden Partizipationsrechte Minderjähriger ab. Diese Vorgaben muss der Staat achten und verwirklichen. Tatsächlich aber werden sie in ihrer Bindungswirkung für alle staatlichen Organe bis heute nicht ausreichend zur Kenntnis genommen.
2/2: Kinder brauchen Bildung, Richter müssen geschult werden
Kinder sind nach der Konvention als Rechtsträger ernst zu nehmen. Wer Rechtsträger ist, entscheidet grundsätzlich selbst, wie er das Recht ausüben will. Für Kinder und Jugendliche ist es dabei von zentraler Bedeutung, gut darüber informiert zu sein, welche Rechte sie haben und wie sie diese einfordern und durchsetzen können. Daher kommt der Menschenrechtsbildung für Kinder und Jugendliche eine zentrale Rolle zu.
Richterinnen und Richter müssen im Umgang mit Kindern geschult sein. Das ist bislang keine verbindliche Voraussetzung in Deutschland. Empirische Studien zeigen, dass hier auch tatsächlich ein großer Handlungsbedarf besteht. Kinder, die in familiengerichtlichen Verfahren angehört oder im Strafverfahren als Opferzeugen vernommen werden, müssen mit Wertschätzung behandelt und umfassend informiert werden. Sie müssen Bescheid wissen etwa über den Zweck des Verfahrens, die möglichen Auswirkungen ihrer Aussage, aber auch den Schutz, den sie vor möglichen Repressalien des Angeklagten erhalten – oder eben auch nicht erhalten - können.
Impulse vom UN-Ausschuss: Koordinieren, Daten erheben, Bildung sichern
Welche Maßnahmen zur systematischen Umsetzung der Kinderrechtskonvention sind geboten und erfolgversprechend? Wichtige Impulse hat hier im Frühjahr 2014 der UN-Kinderrechtsausschuss bei seiner turnusgemäßen Überprüfung der Umsetzung der Konvention durch Deutschland gegeben. Er hat Deutschland empfohlen, eine umfassende Politikstrategie zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention zu entwickeln.
So legt der Ausschuss beispielsweise die Einrichtung einer Stelle zur Koordinierung der Umsetzungsmaßnahmen in der Bundesregierung nahe. Weiterhin befürwortet er eine verbesserte, umfassende und integrierte Erhebung von relevanten Daten und Umsetzungsproblemen, die alle Ebenen umfassen sollte - Bund, Länder und Kommunen. Funktionierende Beschwerdemöglichkeiten für Kinder auf diesen Ebenen werden ebenfalls angeraten.
Deutschland soll zudem über die schulische und außerschulische Bildung sowie andere Institutionen sicherstellen, dass Kinder ihre Rechte kennen und Trainingsprogramme für alle relevanten Berufsgruppen entwickelt und angewandt werden. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat daher soeben Vorschläge für eine Verankerung von Menschenrechtsbildung für Kinder und Jugendliche vorgelegt.
Neben der verbesserten Umsetzung der Kinderrechte empfiehlt der Ausschuss eine vorrangige Berücksichtigung von Kinderrechten in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und fordert Deutschland auf, Unternehmen anzuleiten und zu kontrollieren, Kinderrechte in ihrem Tätigkeitsbereich zu achten. Das ist beispielsweise im "Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte" zu berücksichtigen, den die Bundesregierung gegenwärtig ausarbeitet.
Mängel beseitigen, Monitoring einführen
Diese Empfehlungen allein machen natürlich noch keine Politikstrategie. Ihre Umsetzung ist jedoch dazu geeignet, die Rechte der Kinder in Deutschland verstärkt zur Geltung zu bringen, wenn sie denn mit den richtigen Maßnahmen umgesetzt werden.
In einem ersten Schritt sollten Bund und Länder systematisch ihre Gesetze und ihre Praxis durchforsten, um Lücken und Mängel zu identifizieren und den in der Konvention verbrieften Rechten volle Wirksamkeit zu verschaffen. Einige dieser Mängel im Recht hat der UN-Kinderrechtsausschuss bereits benannt: ein fehlendes Recht auf Familiennachzug von Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren, die Übermittlungspflicht von sozialen Diensten, die dazu führt, dass Kinder ohne Papiere sich aus Furcht vor der Entdeckung nicht an Gesundheitseinrichtungen wenden oder das Fehlen zugänglicher Beschwerdeverfahren für Kinder mit Behinderungen, die Gewalt erfahren haben.
Außerdem bedarf es in Deutschland eines kontinuierlichen unabhängigen Monitorings, um die staatliche Umsetzung der Konvention kritisch und konstruktiv zu begleiten. Auch hierbei gilt es, der tragenden Rolle von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden, indem sie an Monitoring-Verfahren nicht nur beteiligt werden, sondern diese auch aktiv mitgestalten können.
Zur Schaffung einer Kultur der Kinderrechte gehört neben der Partizipation von Kindern an allen sie betreffenden Prozessen auch eine rechtspolitische Debatte, die sich an der Kinderrechtskonvention ausrichtet. 25 Jahre nach Inkrafttreten der Kinderrechtskonvention wird es dazu höchste Zeit.
Die Autorin Prof. Dr. iur. Beate Rudolf ist Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Zuvor lehrte sie als Juniorprofessorin für Öffentliches Recht und Gleichstellungsrecht am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin und leitete das Teilprojekt "Völkerrechtliche Vorgaben für Governance in schwachen und zerfallenden Staaten" im Sonderforschungsbereich "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit". Ihre Forschungsschwerpunkte sind Grund- und Menschenrechte sowie Staatsstrukturprinzipien nach Völkerrecht, Europarecht und deutschem Verfassungsrecht.
Prof. Dr. iur. Beate Rudolf, 25 Jahre UN-Kinderrechtskonvention: Und noch immer keine Kultur der Kinderrechte . In: Legal Tribune Online, 20.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13877/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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