Vergangene Woche wurde in Texas die 500. Todesstrafe seit Ende des Moratoriums 1976 vollstreckt. Andrew Hammel hat zehn Jahre als Strafverteidiger für Menschen im Todestrakt des Bundesstaates gearbeitet. Mit LTO spricht er über seine Erfahrungen aus jener Zeit – und darüber, wie weit es mit der moralischen Überlegenheit Deutschlands wirklich her ist.
LTO: Herr Professor Hammel, in Texas wurden seit 1976 500 Menschen hingerichtet. Der Bundestaat mit den zweitmeisten Exekutionen, Virginia, kommt mit 110 gerade mal auf ein gutes Fünftel. Wie erklärt sich dieser fragwürdige Rekord?
Hammel: Zunächst ist Texas mit ca. 26 Millionen Einwohnern ein sehr bevölkerungsreicher Bundesstaat, was die Anzahl an Todesurteilen pro Kopf etwas relativiert. Vor allem aber ist die Bevölkerung dort überwiegend konservativ und pro Todesstrafe. Politiker und auch Richter – die in Texas vom Volk gewählt werden – treten mit Wahlversprechen an, die ihnen möglichst viele Stimmen sichern, und dazu gehört ein resolutes Vorgehen gegen Straftäter.
LTO: Welche praktischen Konsequenzen hat das?
Hammel: Die wesentliche Konsequenz ist, dass Texas ein außerordentlich durchsetzungsfähiges System zur Vollstreckung der Todesstrafe entwickelt hat. Das schlägt sich bereits in den maßgeblichen prozessualen Vorschriften nieder, mehr aber noch in deren praktischer Anwendung. Oftmals erlauben Gesetze einen gewissen Spielraum bei der Auslegung, und dieser Spielraum wird zu Ungunsten der Angeklagten verwendet. Besonders in den 80er und 90er Jahren haben viele Richter in ihrer Entscheidungsfindung eine unverkennbar politische Linie verfolgt und sind den rechtlichen Gesuchen von zum Tode verurteilten Straftätern mit regelrecht unverhohlener Feindseligkeit gegenübergetreten.
"In der Gesellschaft genießt man keinen guten Stand"
LTO: Unterscheidet sich die Lage in anderen Bundesstaaten deutlich?
Hammel: Absolut. Nehmen Sie zum Vergleich Kalifornien. Dort sitzen zur Zeit etwa 700 Menschen im Todestrakt, aber nur die wenigsten davon werden tatsächlich hingerichtet werden, weil es dort eine hervorragende Vereinigung staatlich finanzierter und hochgradig spezialisierter Strafverteidiger für diese Fälle gibt. In Texas hingegen wurden die Pflichtverteidigungsmandate bis vor kurzem beinahe nach dem Zufallsprinzip vergeben. Gerade in den kleineren, ländlicheren Bezirken kam es nicht selten vor, dass das Gericht den örtlichen Feld-Wald-und-Wiesen-Anwalt, der wenig Erfahrung im Strafrecht und gar keine bei Kapitaldelikten hat, mit der Verteidigung in einem Mordverfahren betraut hat.
Diese Missstände haben in jüngerer Vergangenheit etwas abgenommen, weil Vereinigungen wie das Gulf Regional Advocacy Center und der Texas Defender Service sie über lange Jahre hinweg immer wieder publik gemacht und angeprangert haben, aber auch heute ist Texas noch immer einer der vollstreckungsfreundlichsten Staaten.
LTO: Wie war es für Sie persönlich, in einem solchen System als Verteidiger zu arbeiten?
Hammel: Nun, es werden einem schon sehr viele Steine in den Weg gelegt. Da die Todeskandidaten praktisch nie in der Lage sind, für ihre Anwaltskosten selbst aufzukommen, finanziert diese der Staat. Über die Bewilligung entscheidet der Richter, vor dem auch das Verfahren stattfindet – und der, wie gesagt, oftmals überzeugter Anhänger der Todesstrafe ist. Dadurch kommt es häufig vor, dass Verteidigungsmaßnahmen als mutwillig und nicht ersatzfähig deklariert werden, und die Anwälte nur die Hälfte oder noch weniger ihres eigentlichen Honorars erhalten – und das dann um viele Wochen verspätet.
Auch in der Gesellschaft genießt man in Texas keinen guten Stand, wenn man den Leuten erzählt, dass man Vergewaltiger und Mörder vertritt. Letztlich ist das also ein guter Weg, um arm und unbeliebt zu werden.
"Exekution Unschuldiger empfinden auch Befürworter als erschreckend"
LTO: Gab es einmal einen Fall, bei dem sich im Nachhinein herausgestellt hat, dass der hingerichtete Straftäter unschuldig war?
Hammel: Einen Fall, bei dem dies mit absoluter Sicherheit – etwa durch einen DNA-Test – nachgewiesen werden konnte, hat es bisher noch nicht gegeben. Es gibt aber mehrere, in denen es hochgradig wahrscheinlich ist. Das beste Beispiel ist wohl Cameron Todd Willingham, der auf Grund eines Sachverständigengutachtens für schuldig befunden wurde, sein Haus inklusive seiner darin befindlichen Kinder niedergebrannt zu haben.
Nach seiner Exekution hat sich das ursprüngliche Gutachten in weiteren Untersuchungen jedoch als völlig unbrauchbar und höchstwahrscheinlich falsch erwiesen. Die Aufklärung gestaltet sich aber schwierig, weil Texas' Gouverneur, Rick Perry, die Ermittlungen behindert und versucht, die zuständigen Kommissionen mit seinen eigenen Anhängern zu besetzen.
LTO: Sorgen solche Fälle denn für eine Debatte über die Todesstrafe?
Hammel: Absolut. Außerdem gibt es ja eine erhebliche Zahl von Verurteilten, die nachträglich freigesprochen werden und ihrem Tod somit um Haaresbreite entkommen. Dass ein Unschuldiger exekutiert werden könnte, empfinden natürlich auch Befürworter der Todesstrafe als erschreckend.
Der Gouverneur von Illinois – übrigens ein konservativer Republikaner – hat sie abgeschafft, weil es nach seiner Einschätzung nur eine Frage der Zeit war, bis genau dies passieren würde. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Leute wie Antonin Scalia, Richter am Obersten Gerichtshof der USA, die ganz offen sagen, dass Fehler nun einmal hin und wieder vorkommen und man damit ganz einfach leben – beziehungsweise sterben – müsse.
2/2: "Fundamentale Fragen des Strafrechts in Deutschland kein Wahlkampfthema"
LTO: Trotz der beträchtlichen Einwände ist eine Mehrheit der Amerikaner für die Todesstrafe, wohingegen sie hierzulande ganz überwiegend abgelehnt wird. Wie erklärt sich diese unterschiedliche Haltung?
Hammel: Zum einen ist der Unterschied gar nicht so gewaltig, wie Sie vielleicht glauben. Wenn Sie in einer Umfrage abstrakt wissen wollen, ob jemand für oder gegen die Todesstrafe ist, sprechen sich in Amerika ungefähr 60 und in Deutschland 20 bis 25 Prozent dafür aus. Wenn Sie aber konkret fragen, ob es diese Strafe für jemanden geben sollte, der ein kleines Kind vergewaltigt und getötet hat, dann bejahen das auch in Deutschland zwischen 55 und 65 Prozent der Befragten.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass eine Wiedereinführung der Todesstrafe in Deutschland bereits unter rechtlichen und politischen Gesichtspunkten ausscheidet. Die Verfassung verbietet sie in Art. 102 und Politiker machen fundamentale Fragen des Strafrechts hierzulande nicht zu Wahlkampfthemen. Die Strafgesetze werden in Berlin von einem kleinen Kreis von Experten entworfen und verfasst, denen es nie in den Sinn käme, sich für die Todesstrafe einzusetzen.
Bei den Bürgern besteht also die zutreffende Wahrnehmung, auf diese Frage ohnehin keinen Einfluss zu haben. In Amerika hingegen kann teilweise sogar per Volksentscheid über Strafgesetze entschieden werden – tatsächlich haben einige Staaten auf diesem Wege die Todesstrafe wieder eingeführt. Wenn das Strafrecht in Deutschland auf Länderebene geregelt würde, fände ich es gar nicht so unvorstellbar, dass zum Beispiel Sachsen-Anhalt oder Bayern über eine Einführung der Todesstrafe nachdenken würden.
"Adenauer bekannte sich noch 1964 öffentlich zur Todesstrafe"
LTO: Ist es mit der vielbeschworenen moralischen Überlegenheit Deutschlands in diesem Punkt also gar nicht so weit her?
Hammel: Im Großen und Ganzen besteht für die Todesstrafe in Deutschland heute schon eine sehr viel geringere Akzeptanz als in den USA. Das war aber durchaus nicht immer so. Ihre Abschaffung nach dem zweiten Weltkrieg ging auf einen Vorstoß der "Deutschen Partei" zurück, der damals in der Bevölkerung absolut nicht mehrheitsfähig gewesen wäre. Die SPD ist aus Angst vor der Reaktion der Wähler erst später auf den Zug aufgesprungen. Konrad Adenauer bekannte sich noch 1964 öffentlich zur Todesstrafe.
Erst in den späten 60er und 70er Jahren vollzog sich ein echter Mentalitätswandel in der Breite der Gesellschaft, was zum Teil am politisch-kulturellen Klima jener Zeit lag, zum Teil aber auch an schlichter Gewöhnung. So war es in Europa übrigens häufig. Wenn es einer kleinen, intellektuellen Elite gelingt, die Todesstrafe abzuschaffen, dann verfestigt sich dieser Status quo über die Jahrzehnte. Die Leute hören irgendwann auf, darüber zu diskutieren, akzeptieren den neuen Zustand und halten ihn sogar für eine Errungenschaft. Das hat oftmals mehr mit Gewöhnung zu tun als mit unabänderlichen moralischen Überzeugungen.
LTO: Herr Professor Hammel, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Prof. Andrew Hammel, LL.M. (Harvard) ist Juniorprofessor für Amerikanisches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er ist Autor des Buches Ending the Death Penalty: The European Experience in Global Perspective und war zehn Jahre als Verteidiger für Strafgefangene im Todestrakt texanischer Gefängnisse tätig.
Das Interview führte Constantin Baron van Lijnden.
Prof. Andrew Hammel, LL.M. (Harvard), US-Strafverteidiger über seine Arbeit im Todestrakt: "Ein guter Weg, um arm und unbeliebt zu werden" . In: Legal Tribune Online, 06.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9086/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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