Interview zur Arbeit an neuer Syrien-Verfassung: "Am Ende wird ein Doku­ment stehen"

Interview von Dr. Markus Sehl

25.11.2019

Obwohl in Syrien immer noch gekämpft wird, arbeiten Experten von syrischer Regierung und Opposition in Genf an einer neuen Verfassung. Was das bringen kann, erläutert Verfassungsrechtler Naseef Naeem im Interview.

LTO: Herr Naeem, in Syrien wird immer noch gekämpft, aber in Genf hat nun ein Verfassungskomitee für Syrien seine Arbeit aufgenommen. 

Dr. Naseef Naeem: Dieser Verfassungsprozess ist Teil der internationalen Bemühungen, den Syrienkonflikt zu beenden. Die Verhandlungen, die nun in Genf unter Vermittlung der Vereinten Nationen (UN) beginnen, gehen zurück auf eine UN-Resolution aus dem Jahr 2015. In der Schweiz treffen sich nun syrische Wissenschaftler, Beamte und Anwälte, insgesamt sind es 150 Personen.

Sitzen wirklich alle unterschiedlichen Gruppen, also auch die, die sich im Lande bekämpfen, zusammen am Tisch und arbeiten eine Verfassung aus?

Nach meiner Kenntnis sitzt da bislang noch jede Gruppe für sich. Es gibt drei große Fraktionen. Zum einen kommen 50 Gesandte der syrischen Regierung. Daneben 50 Menschen aus verschiedenen Oppositionskräften. Und schließlich 50 Vertreter der Zivilgesellschaft, die die UN unter Zustimmung von Russland, Iran und Türkei ausgesucht hat.  

Die Beteiligten haben sicherlich sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie die neue Verfassung aussehen soll, oder?

Das stimmt wohl. Während die Oppositionsvertreter sich von einer neuen Verfassung auch eine grundlegende Systemänderung erhoffen, wird vermutlich die Regierungsdelegation versuchen, an der aktuellen Verfassung aus dem Jahr 2012 festzuhalten. Die Gruppe aus der Zivilgesellschaft ist bei dieser Frage geteilt. Diejenigen, die aus dem Ausland kommen, sind eher oppositionsnah, und die, die aus dem Inland kommen, eher regierungstreu. 

(c) privat

"Syrien hat ja schon eine Verfassung"

 

Wenn die Vorstellungen der Akteure so weit auseinanderliegen: Was kann man von den Verhandlungen dann erwarten?

Der Verfassungsprozess bietet Chancen im Hinblick auf den Friedensprozess: Nachdem man im politischen Prozess über die Jahre nicht so sehr vorangekommen ist, soll nun der Weg über eine neue Verfassung gesucht werden. Die eher technischen Verhandlungen über Verfassungsnormen sollen helfen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Also die Hoffnung dürfte sein, verfassungsrechtliche Kompromisse zu finden, die man dann in die politische Diskussion überführen kann.

Aber das Ziel ist schon darauf gerichtet, am Ende einen Verfassungstext zu entwerfen?

Das ist zumindest das Ziel der UN. Aber genau hier liegt auch das Problem. Denn Syrien hat ja schon eine Verfassung. Für mich stellt sich deshalb die Legitimationsfrage des Projektes. Auf Grundlage welcher Regelung soll die aktuelle syrische Verfassung ihre Gültigkeit verlieren? Jedenfalls aber bietet das Projekt "Verfassung" einen guten Anlass, um überhaupt ins Gespräch zu kommen. Immerhin treffen sich da jetzt die Parteien eines Konflikts, die seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 offiziell nicht mehr miteinander an einem Tisch gesessen haben.

Was dürften denn die zentralen Streitpunkte sein?

Die entscheidende Verfassungsfrage wird sein: Wie parlamentarisch soll Syrien werden – oder bleibt das alte präsidiale System. Und damit verbunden natürlich die Frage nach der Zukunft des jetzigen Präsidenten Assad. Aber auch ob und wie man Militärs, Sicherheitsleute und auch bewaffnete oppositionelle Gruppen, für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen wird. Das ist natürlich eine überaus heikle Frage, wer trägt welche Verantwortung für die Eskalation zu einem Bürgerkrieg? Und damit auch um das, was wir unter dem Schlagwort Transitional Justice verstehen, nämlich Mechanismen der juristischen aber auch gesellschaftlichen Aufarbeitung nach einem heftigen Erlebnis wie dem eines Bürgerkriegs.

Wie muss man sich die aktuelle syrische Verfassung vorstellen?

Sie ist quasi eine Kopie der französischen Verfassung der 5. Republik von 1958. Außer dem Präsidenten gibt es ein Parlament, und die Regierung hängt vom Präsidenten ab. Der Präsident besitzt viel Macht aus der Verfassung, er kann das Parlament auflösen und Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. In Syrien wird 90 Prozent der Gesetzgebungsarbeit vom Präsidenten gemacht, nicht vom Parlament. Es gibt zudem noch einen Teil zu Grundrechten, zu allgemeinen Staatsprinzipien. Sie entstand 2012, also bereits nach Beginn des Bürgerkriegs. Assad hat eine Kommission eingesetzt, um eine neue Verfassung zu entwerfen. Aber auch für diese Verfassung stellt sich schon die Legitimationsfrage. Sie sah nämlich keine Regelung vor, dass die alte Vorgängerverfassung von 1973 außer Kraft gesetzt wurde.

"Ein juristisches Kann in ein politisches Muss verwandeln"

Herr Naeem, Sie haben in Damaskus Jura studiert, kamen 2002 nach Deutschland und haben zur Verfassung des Iraks auf Deutsch promoviert und ein weiteres Buch zu den Verfassungen der arabischen Welt geschrieben. Reizt es Sie nicht, in Genf dabei zu sein?

Es reizt jeden Verfassungsjuristen, bei einem Verfassungsprozess dabei zu sein. Dennoch bin ich nicht unglücklich, dass ich in Genf nicht dabei bin. Denn die Zugehörigkeit zu einem Lager, selbst innerhalb der von der UN gewählten Vertreter der Zivilgesellschaft, prägt die Arbeitsatmosphäre in der Kommission, was die Arbeit eines "Verfassungstechnikers" wie mir hätten erschweren können. Auf der anderen Seite genieße ich die Position der neutralen Beobachter. Dabei tausche ich mich ständig mit dem UN-Team in Genf und den verschiedenen Mitgliedern der Kommission aus.

Haben Sie Vorschläge, wie die Verfassung erneuert werden sollte?

Ich glaube, die Kunst besteht darin, ein juristisches Kann in ein politisches Muss zu verwandeln. Dafür braucht es aber die Zusammenarbeit aller politischen Kräfte. Und die Verteilung der Macht in der aktuellen Verfassung muss im Ausgangspunkt genutzt werden: Zum Beispiel könnte der Präsident drei Stellvertreter aus bestimmten Gruppen ernennen und einen Teil seiner Macht an sie delegieren. Als Übergang könnte man dann eine Art Präsidentschaftssystem schaffen. Eine Verfassung müsste dann am Ende von einer gewählten Nationalversammlung erarbeitet werden. Stattdessen sehen wir aber mit dem Komitee in Genf jetzt wieder eine Internationalisierung von Verfassungsgebung.

Was ist daran problematisch, wenn die UN auf eine neue Verfassung hinwirkt und dabei verfeindete Gruppen an einen Tisch kommen?

Die Verfassungsgebung wird von der internationalen Gemeinschaft gefordert. Afghanistan hat das nicht viel für seine Sicherheit und Stabilität gebracht, Jemen und Irak auch nicht. Verfassungsfindung nutzt der internationalen Gemeinschaft, um eine vermeintliche Stabilität zu etablieren. Und das obwohl die Gemeinschaft genau weiß, dass eine politische Lösung für das Land derzeit nicht möglich ist. 

Aber immerhin findet ein Dialog statt. Hat für Sie das Zusammentreffen in Genf eher symbolischen Charakter?

Ja und nein. Bislang sind die Gruppen in verschiedenen Hotels untergebracht, sie sitzen jede für sich. Aber es gibt die Chance, dass man sich dort auch in Kleingruppen zusammensetzt und inhaltliche Verfassungsfragen diskutiert, nur so entsteht da eine Dynamik. Nun hat sich bereits eine Untergruppe gebildet, die aus jeweils 15 Vertretern der Lager besteht, eine Art Entwurfskommission. 

In der kommenden Woche steht das nächste Treffen der Entwurfskommission an, wie geht es weiter?

Das Schicksal der Verhandlungen ist auch eng verknüpft mit dem Einfluss der Türkei und Russlands auf diesen Verfassungsprozess. Während die Türkei garantiert, dass die Oppositionsvertreter an den Treffen weiter teilnehmen werden, garantiert Russland das für die Seite der Regierungsdelegation. Für die beiden Staaten steht ein außenpolitischer Erfolg auf dem Spiel, falls die Verhandlungen scheitern. Für beide ist das ein Prestigeprojekt. Am Ende wird deshalb sicher ein Dokument zustande kommen. Ob diese Verfassung dann die Macht des Präsidenten beschneiden wird, da habe ich allerdings meine Zweifel.

Herr Naeem, danke für das Gespräch.

Dr. iur. Naseef Naeem wurde 1974 in Fairouza (Homs-Syrien) geboren. Er hat in Aleppo und Damaskus Rechtswissenschaften studiert. Promoviert hat er an der Uni Hannover und danach u.a. für das Max-Planck-Institut (MPI) und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet. Naeem arbeitet derzeit als Consultant und wissenschaftlicher Leiter der Forschungs- und Beratungsgruppe zenithCouncil in Berlin. Er hat zahlreiche Publikationen zu Staat, Verfassung und Politik im Nahen Osten geschrieben

Zitiervorschlag

Markus Sehl, Interview zur Arbeit an neuer Syrien-Verfassung: "Am Ende wird ein Dokument stehen" . In: Legal Tribune Online, 25.11.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38883/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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