Wie viele Richter eines Strafsenats sollten die Akte gelesen haben, bevor sie eine Revision per Beschluss verwerfen? Alle oder genügen – wie aktuell üblich –der Vorsitzende und der Berichterstatter? Darüber wird derzeit nicht nur in Fachzeitschriften gestritten. Kay Nehm sieht in einem Zehn-Augen-Prinzip keinen Gewinn für die Rechtssicherheit, die Richter sollten ihre Arbeitskraft besser auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren.
Streitigkeiten zwischen Bundesrichtern um das richtige Recht lassen sich in einer offenen Gesellschaft nur bis zu einem gewissen Grad hinter verschlossenen Türen austragen. Zwar ist das Beratungsgeheimnis sakrosankt, die Auffassung, Richter sollten ausschließlich durch ihre Urteile sprechen, wird jedoch zunehmend in Frage gestellt.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Aufmüpfigkeiten Einzelner mit einem "das haben wir schon immer so gemacht" abgetan werden konnten. Auf einem anderen Blatt steht freilich, ob Inhalt und Stil der öffentlichen Auseinandersetzung höchstrichterlichen Anforderungen gerecht werden. Das gilt etwa für die Fehde um die Beratungskultur der Strafsenate des Bundesgerichtshofs (BGH), die mittlerweile ihre publizistischen Kombattanten gefunden hat.
Kritik hat nur wenig mit Rechtslage und Praxis gemein
Befremden ruft nicht allein der harsche, mit unumstößlichen Gewissheiten grundierte Ton der Auseinandersetzung hervor, der auch vor dem Hintergrund der Querelen um die Neubesetzung freier Senatsvorsitze zu sehen ist. Dem juristischen Laien wird mit kräftigen Strichen ein verstörendes Bild der Revision gezeichnet, das mit der Rechtslage und Praxis nur wenig gemein hat.
So entsteht der Eindruck, drei der fünf Richter des Senats bestimmten über den Ausgang des Verfahrens, ohne sich mit dem Akteninhalt vertraut gemacht zu haben. Dabei gerät aus dem Blick, dass nicht nur die strafrechtliche Revision als solche anderen Bedingungen als das Zivilverfahren unterliegt. Auch die Verfahrensabläufe weichen, je nachdem, ob der Senat im Beschlusswege oder durch Urteil entscheidet, erheblich voneinander ab.
Beschluss, wenn offensichtlich unbegründet
Im Urteilsverfahren erhalten alle Mitglieder des Senats, die einer sogenannten Sitzgruppe angehören, "die Akten". Darin befinden sich die wesentlichen, für das Revisionsverfahren maßgeblichen Unterlagen. Beigefügt ist das mit Gründen versehene Votum des Berichterstatters. Beides bildet die Grundlage der nach mündlicher Verhandlung stattfindenden Beratung. Dieses Verfahren ist außer Streit.
Die aktuelle Auseinandersetzung gilt vielmehr dem Beschlussverfahren. Konkret geht es darum, ob dessen Besonderheiten es rechtfertigen, generell vom Procedere der Urteilsfindung abzuweichen.
Die Möglichkeit durch Beschluss statt durch Urteil zu entscheiden, soll die Revisionsgerichte entlasten. Die Wahl der Verfahrensart obliegt zunächst nicht dem Senat. Sie hängt von der Einschätzung des Generalbundesanwalts ab. Hält er die Revision für offensichtlich unbegründet, weil für jeden Sachkundigen ohne längere Prüfung erkennbar ist, dass die Rügen keinen Erfolg haben werden, beantragt er, das Rechtsmittel durch Beschluss zu verwerfen. Antrag und Gründe sind dem Beschwerdeführer mitzuteilen, der sich innerhalb von zwei Wochen gegenüber dem Senat erklären kann. Nach Fristablauf hat der Senat zu entscheiden. Entweder kann er eine Hauptverhandlung anberaumen und durch Urteil entscheiden oder er kann das Rechtmittel, wenn er die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet, antragsgemäß durch Beschluss verwerfen.
2/2: Keinem Beisitzer wird der Blick in die Akten verwehrt
Im Beschlussverfahren werden keine Akten verteilt. Allein der Vorsitzende und der Berichterstatter lesen die relevanten Unterlagen. Der Senat entscheidet nach herkömmlicher Praxis aller Strafsenate auf Grund eines mündlichen Vortrags des Berichterstatters.
Ob sich die beisitzenden Richter mit dem Vortrag des Berichterstatters begnügen oder aus konkretem rechtlichen Interesse, aus Misstrauen oder aus vermeintlich verfassungsrechtlichen Zwängen selbst lesen wollen, bleibt allein ihnen überlassen. Dass einem Beisitzer jemals der Blick in die Akten verwehrt wurde, ist nicht bekannt. Dagegen sind Nachfragen keineswegs selten. In der Regel pflegt dann der Berichterstatter die betreffenden Passagen aus den Akten herauszusuchen und vorzulesen.
Verzichtet der Senat auf eine Begründung, unterzeichnen die Richter einen Formularbeschluss. Andernfalls fertigt der Berichterstatter einen Beschlussentwurf, der zusammen mit dem Senatsheft zur Unterzeichnung in Umlauf gegeben wird. Hier besteht also eine weitere Gelegenheit, die Akten einzusehen und gegebenenfalls auf eine Nachberatung zu dringen.
Die Revision – ein Rechtsmittel mit begrenzten Möglichkeiten
Gewiss kann man fragen, ob das Procedere eines obersten Bundesgerichts auf das Vertrauen der Beisitzer in die Integrität und Sorgfalt von zwei Senatskollegen gegründet sein sollte. Die Antwort lässt sich nicht allein mit moralischer Entrüstung beiseite schieben. Sie folgt vielmehr aus dem eingeschränkten revisionsrechtlichen Aktenbegriff sowie aus den alternativen außergerichtlichen Kontrollen.
Die Revision ist ein Rechtsmittel mit begrenzten Möglichkeiten. Der BGH befindet grundsätzlich nicht selbst über Schuld und Strafe. Nur wenn eine prozessordnungsgemäße Rüge den Senat überzeugt, dass dem Tatrichter Verfahrensfehler unterlaufen sind oder dass der im Urteil festgestellte Sachverhalt die Verurteilung nicht trägt, besteht die Chance einer erneuten Hauptverhandlung. Es liegt somit in der Systematik des Revisionsrechts, dass das richtig oder falsch der Wahrheitsfindung nur begrenzt zur Disposition steht.
Dieser eingeschränkte Prüfungsmaßstab bildet das entscheidende Kriterium des revisionsrechtlichen Aktenbegriffs. Zwar liegen dem BGH die gesamten Verfahrensakten vor. Die Verwertung des sonstigen Akteninhalts ist dem Senat jedoch selbst dann verwehrt, wenn eine zulässige Verfahrensrüge "die Akten öffnet".
Strafsenate können nicht beliebig vermehrt werden
Angesichts des begrenzten Prüfungsmaßstabes und der erfreulicherweise hohen Kompetenz der Richter sind erfolgreiche Revisionen nicht eben häufig. Selbstverständlich kann sich ein Verurteilter, der das Urteil für falsch hält, trotz geringer Erfolgsaussichten zu einer Rüge veranlasst sehen, weil er die Hoffnung hat, der BGH werde schon etwas finden. Zuweilen verfolgt eine Revision auch nur das Ziel, die Strafhaft hinauszuschieben. Häufig steht daher der Umfang korrekt begründeter Verfahrensrügen und ausgeführter Sachrügen in keinem Verhältnis zum erwarteten Ertrag.
Ob sich die beisitzenden Richter unter diesen Umständen generell der zeitraubenden Lektüre sämtlicher Schriftstücke des Revisionsverfahrens widmen sollten, ist nicht nur eine Frage individueller Berufsauffassung. Strafsenate am BGH können nicht beliebig vermehrt werden. Die Rechtsordnung ist deshalb darauf angewiesen, dass die Richter ihre Arbeitskraft darauf konzentrieren, die Rechtseinheit zu wahren und Einzelfallgerechtigkeit herzustellen.
Kein Gewinn an Rechtssicherheit
Darüber hinaus ist das Vertrauen der Beisitzer in die Redlichkeit des Berichterstatters nicht nur durch die Kontrolle des Vorsitzenden abgesichert. Am Revisionsverfahren sind die verfahrensführende Landesstaatsanwaltschaft mit ihrer Gegenerklärung, der Rechtspfleger der Bundesanwaltschaft mit der Vorprüfung der Formalien sowie der Bundesanwalt der Revisionsabteilung und der Rechtsanwalt des Revisionsführers beteiligt.
Die Bundesanwaltschaft geht nahezu ausnahmslos unter Hinweis auf entgegenstehende Rechtsprechung mit eingehender Begründung auf sämtliche Rügen des Revisionsführers ein. Dass dabei auch nur versehentlich gewichtige Argumente unter den Tisch fallen, ist mehr als unwahrscheinlich.
Es verspricht somit keinen Gewinn an Rechtssicherheit und Rechtskultur, ausgerechnet die offensichtlich unbegründeten strafrechtlichen Revisionen in einem obligatorischen aufwändigeren Verfahren bearbeiten und beraten zu lassen. Wer sich mit dem Vortrag des Berichterstatters nicht zufrieden geben will, mag künftig selbst lesen. Zu einer Verunsicherung der Bevölkerung und zu Vorwürfen gegen Richterkollegen besteht jedenfalls kein Anlass.
Der Autor Kay Nehm ist Generalbundesanwalt a.D. sowie ehemaliger Richter des Bundesgerichtshofs.
Kay Nehm, Zur Beratungskultur der BGH-Strafsenate: Sowieso nur Teile der Akte verwertbar . In: Legal Tribune Online, 27.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10433/ (abgerufen am: 17.04.2024 )
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