Wiederaufnahme zu Ungunsten des Anklagten: Bald Frei­spruch unter Vor­be­halt?

von Hasso Suliak

19.11.2019

Das BMJV prüft, ob Mörder nach einem rechtskräftigen Freispruch unter bestimmten Voraussetzungen doch noch verurteilt werden können. Aus Sicht des DAV verstößt das gegen das im Grundgesetz verankerte Doppelbestrafungsverbot.

Fälle, in denen freigesprochene Angeklagte Jahre später etwa aufgrund einer DNA-Analyse des Mordes überführt werden konnten, haben in der Vergangenheit immer wieder für Aufsehen gesorgt. Auch deshalb, weil nach derzeitiger Rechtslage die Täter wegen des Verbots der sogenannten Doppelbestrafung ("ne bis in idem"-Grundsatz) in Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) nicht mehr erneut wegen derselben Tat vor Gericht gestellt werden können.

Eine Wiederaufnahme zu Ungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen ist nach § 362 Strafprozessordnung (StPO) neben den in den Nummern 1 bis 3 geregelten Manipulations- und Amtspflichtverletzungen im Grunde nur dann zulässig, wenn der Freigesprochene nach § 362 Nr. 4 StPO vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubhaftes Geständnis ablegt.

In Bezug auf schwerste Straftaten, die wie Mord und Völkermord nicht verjähren, möchte die große Koalition das jetzt ändern: Bereits im Koalitionsvertrag hatte sie sich daher auf eine Ergänzung von § 362 StPO verständigt. Dort heißt es: "Wir erweitern die Wiederaufnahmemöglichkeiten zu Ungunsten der oder des freigesprochenen Angeklagten in Bezug auf die nicht verjährbaren Straftaten". So jedenfalls lautet der Arbeitsauftrag an das Bundesjustizministerium (BMJV). Im Hause von Ministerin Christine Lambrecht scheint es jetzt konkret zu werden: "Das BMJV prüft die Umsetzung dieser Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag", heißt es auf LTO-Anfrage.

BMJV: "Schwierige verfassungsrechtliche Fragen"

Die wesentliche Herausforderung dürfte dabei sein, eine Lösung zu finden, die keiner GG-Änderung bedarf. So räumt das Ministerium auf LTO-Anfrage ein, dass die Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zu Ungunsten eines rechtskräftig freigesprochenen Angeklagten "schwierige verfassungsrechtliche Fragen" aufwerfe.

Das GG sehe grundsätzlich keine Möglichkeit vor, neue gesetzliche Ausnahmen von dem in Art. 103 Abs. 3 gewährleisteten Verbot der mehrfachen Strafverfolgung in derselben Angelegenheit zu schaffen, sagt Ministeriumssprecher Maximilian Kall. Änderungen des Wiederaufnahmerechts zuungunsten des Angeklagten seien deshalb ohne eine Grundgesetzänderung nur in Randbereichen zulässig.

Ein solcher Randbereich scheint aus Sicht der GroKo gefunden zu sein: § 362 StPO soll maßvoll erweitert werden, die Wiederaufnahme zuungunsten eines Angeklagten soll auf Mord und Völkermord beschränkt bleiben.

Die Beschränkung auf diese Tatbestände wird offenbar damit begründet, dass diese gegen das Leben gerichteten Verbrechen wegen ihrer besonderen Verwerflichkeit mit absoluter – also lebenslanger - Strafe bedroht sind und nach § 78 Abs. 2 Strafgesetzbuch und § 5 Völkerstrafgesetzbuch keiner Verjährung unterliegen. Wiederaufgenommen soll laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel das Verfahren gegen einen verurteilten Mörder allerdings nur dann, wenn Beweisstücke, die zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung bereits vorgelegen haben, durch neue technische Möglichkeiten ausgewertet werden können.

Der Bundesarbeitskreis der CDU-Juristen (BACDJ) hatte dagegen vorgeschlagen, generell bei Vorliegen neuer Tatsachen und Beweismittel, sofern diese dringende Gründe für die Annahme bilden, dass der Freigesprochene verurteilt wird, die Wideraufnahme zu ermöglichen. Danach könnten zum Beispiel auch spätere, belastende Zeugenaussagen ein Grund sein, dass Verfahren wieder aufzurollen.

DAV: Verstoß gegen Art.103 Abs.3 GG

Doch selbst in den engen Grenzen, wie sie dem BMJV vorschweben, sehen Anwaltsverbände einen Verfassungsbruch: "Ein derartiges Vorhaben verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG, der nach allgemeiner Auffassung auch die Doppelverfolgung nach einem Freispruch verbietet", sagt der renommierte Strafverteidiger Stefan Conen, der Mitglied des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins (DAV) ist. Im Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit habe sich das GG, so Cohnen, "eindeutig für die Rechtskraft entschieden".

Überhaupt findet der Anwalt die von der GroKo angestrebte Lösung wenig konsistent: "Warum sollte man die Rechtskraft nur durchbrechen, wenn DNA auftaucht und nicht auch bei einer neuen, einen Freigesprochenen eindeutig belastenden Zeugenaussage? Warum nur bei Mord und nicht etwa auch bei erschütternden Sexualdelikten?", fragt er. Nach Ansicht des Strafverteidigers böten jedoch weder Verfassung "noch unser Prozessverständnis" für die Rechtsfigur eines Freispruchs "unter dem Vorbehalt späterer besserer Erkenntnis" rechtsstaatlich ungenutzten Raum.

Ob sich das BMJV trotz dieser verfassungsrechtlichen Bedenken am Ende zu einem Gesetzentwurf durchringen wird? Noch, heißt es aus dem Ministerium, sei die Prüfung nicht abgeschlossen. Und mit Blick auf die Vorgaben im Grundgesetz erinnert BMJV-Sprecher Kall: "In der Vergangenheit sind bereits mehrere Gesetzgebungsvorhaben, die eine Ausweitung der Wiederaufnahmemöglichkeiten vorsahen, gescheitert."

Zitiervorschlag

Wiederaufnahme zu Ungunsten des Anklagten: Bald Freispruch unter Vorbehalt? . In: Legal Tribune Online, 19.11.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38777/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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