Strafprozess in Mexiko: In dubio contra reum

Gastbeitrag von Anne Schneiderhan, LL.M.

22.08.2018

Um trotz schlecht ausgestatteter Ermittlungsbehörden Erfolgszahlen in der Kriminalitätsbekämpfung zu verbuchen, ist es in Mexiko gängige Praxis, die Unschuldsvermutung umzukehren. Welche Folgen das hat, erläutert Anne Schneiderhan.

Mexiko hat mit circa 200 Inhaftierten pro 100.000 Einwohner beinahe doppelt so viele Strafgefangene pro Kopf wie die Länder der Europäischen Union. Das erstaunt angesichts der schlecht ausgestatteten Polizei und chronisch überlasteten Staatsanwaltschaften. Es fehlen oft die Mittel, um Ermittlungsmaßnahmen wie Spurensicherung oder DNA-Analyse durchzuführen, auch Gerichtsmediziner sind rar. Dennoch sind die Gefängnisse überfüllt. Das liegt vor allem daran, dass auf die Wahrheitsfindung im Strafprozess wenig wert gelegt wird. 

Der Grundsatz in dubio pro reo besagt, dass der Richter den Angeklagten freizusprechen hat, wenn er Zweifel an seiner Schuld hat. Das gilt auch in Mexiko – jedenfalls auf dem Papier. In der Praxis wird die Unschuldsvermutung oft in ihr Gegenteil verkehrt. Wer von der Polizei aufgegriffen und zum Tatverdächtigen erklärt wird, muss in der Regel seine Unschuld selbst beweisen, um nicht verurteilt zu werden. Das verstößt jedoch nicht nur gegen einen der wichtigsten Grundsätze des rechtsstaatlichen Strafverfahrens, sondern führt auch zu mehr Straffreiheit und weniger Vertrauen in den Staat. 

Laut einer Studie des Centro de Investigación y Docencia Económicas (CIDE) findet in mexikanischen Strafprozessen kaum eine Überprüfung der von der Polizei präsentierten Beweise statt. Die Studie untersucht 1145 Fälle, die in Mexikos bevölkerungsreichstem Bundesstaat Estado de México zwischen 2010 und 2014 entschieden wurden. In nur 38,5 Prozent der Fälle forderte die Staatsanwaltschaft oder das Gericht zusätzliche Beweismittel an, wobei es sich in 26,3 Prozent der Fälle um die wiederholte Befragung derselben Zeugen handelte. In nur 14,7 Prozent der Fälle wurden neue Zeugen befragt, in 8,9 Prozent der Fälle Fotografien oder Dokumentation angefordert, und nur in 0,9 Prozent der Fälle eine Gegenüberstellung durchgeführt. 

In weniger als einem Fünftel der Mordfälle wird der Tatort gesichert 

Dies ist besonders bedenklich vor dem Hintergrund, dass der Polizei nach eigenen Angaben selten die nötigen Mittel zur Verfügung stehen, um eine ordentliche Beweisaufnahme durchzuführen. Der Online-Zeitschrift Animal Político gegenüber berichten Polizisten, in ihrem Revier über keinen zur Spurensicherung ausgebildeten Kollegen zu verfügen. Auch Leichenhallen und Geräte für Obduktionen sind in kleineren Orten selten vorhanden. Wenn der örtliche Gerichtsmediziner gerade an einem anderen Tatort ist, machen eben die dafür nicht ausgebildeten oder ausgestatteten Streifenpolizisten seine Arbeit. 

Einer Studie des Instituto Méxicano para la Competitividad (IMCO) zufolge sichert die Polizei nur in 17,9 Prozent aller Mordfälle den Tatort. Dies sind immerhin 14 Prozent mehr als vor einigen Jahren. Bei Diebstahl ist die Tatortsicherung allerdings noch immer die seltene Ausnahme in nur 1,1 Prozent der Fälle. Mangelndes Interesse an einer ordentlichen Beweisaufnahme ist jedoch nicht nur bei der Polizei zu verorten. Die Staatsanwaltschaft ordnete in nur 21 Prozent der untersuchten Mordfälle und 4,9 Prozent der Diebstahlsfälle die Sicherstellung von Beweisen an. 

Wichtigste Beweismittel sind daher in den meisten Fällen Zeugenaussagen und Geständnisse. Eine Reform des mexikanischen Prozessrechts hat Geständnisse besonders attraktiv gemacht, denn so kann der Beschuldigte in einem beschleunigten Verfahren gegen Reparationszahlungen entlassen werden. Die Mehrzahl der Verfahren wird so gelöst. 

Geständnisse unter Folter werden verwertet 

Es stört die Richter dabei nicht, dass viele der Geständnisse offensichtlich unter Folter zustande kommen. 18 Prozent der vom CIDE untersuchten Akten lag ein amtsärztliches Gutachten bei, nachdem der Angeklagte in der Haft misshandelt oder gefoltert wurde. In kaum einem Fall - nur 2,6 Prozent - wurden die so erhaltenen Beweismittel für unzulässig erklärt. In den übrigen Fällen entschied der Richter auf Grundlage dieser durch Folter oder Drohung erlangten Beweismittel.

Auch Zeugenaussagen sind nicht verlässlicher. Ein ehemaliger Polizist gab Animal Político gegenüber zu, regelmäßig unter Erfolgsdruck am Tatort den Erstbesten geschnappt, eingeschüchtert und zum Tatverdächtigen erklärt zu haben. Im Anschluss wurde nach "Zeugen" gesucht, die bereit waren, gegen diese Person auszusagen. So kommen die wesentlichen Beweismittel in einem Strafverfahren zustande. Wehren kann sich der Angeklagte in der Regel nur, wenn er seine Unschuld aktiv beweisen kann.

Selbst in einer mündlichen Hauptverhandlung hat der Angeklagte jedoch schlechte Karten. Der Studie des CIDE zufolge werden in nur 58,5 Prozent der Fälle, in denen es zu einer mündlichen Gerichtsverhandlung kommt, über die polizeilichen Ermittlungen hinausgehende Beweismittel eingeführt. In 86,1 Prozent der mündlichen Verhandlungen entscheidet das Gericht im Sinne der Anklage. Und das, obwohl den Richtern bekannt sein muss, dass Aussagen des Angeklagten und der Zeugen oft unter rechtswidrigen Bedingungen zustande kommen und daher eigentlich – auch nach mexikanischem Recht – unverwertbar wären. 

Strafverteidiger überfordert 

Unterstützung gegen die Staatsgewalt erhält der Angeklagte nur schwer. Die Rolle des Strafverteidigers ist recht neu. Erst 2016 wurde verbindlich das mündliche Verfahren eingeführt. Bis dahin entschied der Richter auf Basis der Aktenlage in der Regel ohne vorherige Anhörung des Angeklagten. Im Vergleich dazu hat sich die Lage schon um einiges verbessert. Trotzdem scheint es, dass es bislang kaum Anwälte gibt, die in der Lage sind, die Recht des Angeklagten adäquat zu verteidigen.

Es erstaunt auch, dass die meisten Richter offensichtlich wenig Interesse an der Ermittlung der Wahrheit haben und ihre Entscheidungen auf augenscheinlich rechtswidrig erlangte Beweismittel stützen.

Die Unschuldsvermutung mag dem ein oder anderen ein Dorn im Auge sein und als Hindernis im Kampf gegen die Kriminalität erscheinen. Sie gilt jedoch nicht nur dem Schutz des Angeklagten, sondern auch dem Schutz des Rechtsstaats als solchem. Das wird am Beispiel Mexiko deutlich. Die aktuell praktizierte Politik der "harten Hand" wirkt nicht gegen die ansteigende Gewaltkriminalität. Die Mordrate war 2017 so hoch wie nie. Die Verurteilung von Unschuldigen und kategorische Inhaftierung von Verdächtigen trägt nichts zur Kriminalitätsbekämpfung bei. 

Beschuldigtenrechte nur auf dem Papier 

Vielmehr sinkt das Vertrauen in den Rechtsstaat. Laut einer Studie des Instituto Nacional de Estadística y Geografía (INEGI) haben 85 Prozent der Mexikaner kein oder wenig Vertrauen in die Polizei. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass nur etwa 5 Prozent aller Straftaten überhaupt zur Anzeige gebracht werden. Staatliches Ermitteln wird so nur weiter erschwert. Hinzu kommt, dass die tatsächlichen Straftäter oft auf freiem Fuß bleiben, während Unschuldige in den Gefängnissen mit kriminellen Banden in Kontakt kommen und kriminalisiert werden.

Wenngleich die Missachtung des Grundsatzes in dubio pro reo zu einer höheren statistischen Erfolgsrate in der Kriminalitätsbekämpfung führt, ist dieser Erfolg nur scheinbar. Mit einer großen Reform des Strafprozessrechts 2008 wurden wichtige Weichen für ein faires Verfahren gelegt. Die Beschuldigtenrechte bestehen bislang jedoch vor allem auf dem Papier. Bleibt zu hoffen, dass das Umdenken auch in den Köpfen der Richter und Staatsanwälte ankommt.

Anne Schneiderhan, LL.M., lebt derzeit in Mexiko, wo sie für ihre juristische Doktorarbeit zur Polizei in Lateinamerika recherchiert. 

Zitiervorschlag

Strafprozess in Mexiko: In dubio contra reum . In: Legal Tribune Online, 22.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30477/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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