SPD-Mitgliederentscheid: Die neue Macht der Basis

Ob er sich Gedanken über die Verfassungsmäßigkeit des Mitgliederentscheids über den Koalitionsvertrag gemacht hätte, fragte Marietta Slomka den SPD-Vorsitzenden am Donnerstagabend im heute journal. Gabriel hielt das für Quatsch. Im Ergebnis zu Recht, meinen Pia Lange und Alexander Thiele. Wenn, dann müsste man fragen, ob die starke Rolle der Parteien bei der Regierungsbildung gerechtfertigt ist.

Vom 6. bis zum 12. Dezember 2013 können die 474.820 SPD-Mitglieder abstimmen, ob sie dem Koalitionsvertrag mit der Union und damit der gemeinsamen Regierungsbildung zustimmen. Beteiligen sich mindestens 20 Prozent der Mitglieder an der Befragung, ist das Ergebnis für die Parteiführung bindend.

Letztlich werden daher etwa 100.000 SPD-Mitglieder über das Zustandekommen der zukünftigen Regierung entscheiden. Die Auswirkungen einer ablehnenden Entscheidung – insbesondere auf die Führungsriege der Partei – sind kaum abzusehen. Politisch ist das Verfahren damit zweifellos riskant, aber ist es auch verfassungsrechtlich bedenklich?

Mitgliederentscheid: Unzulässige Weisung?

Das denkt zumindest der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart. Er bezweifelte vergangene Woche im Handelsblatt die Vereinbarkeit des Mitgliederentscheids mit dem freien Mandat aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG). Denn, so die Überlegung, den Bundeskanzler wählen allein die Abgeordneten des Bundestages und nicht die Parteimitglieder.

Diese aber sind "Vertreter des ganzen Volkes" und "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Exakt solchen unzulässigen Aufträgen und Weisungen komme der Mitgliederentscheid jedoch zumindest für die SPD-Abgeordneten sehr nahe, denn diesen werde dadurch letztlich vorgegeben, wie sie sich bei der Wahl des Bundeskanzlers zu verhalten hätten.

SPD-Abgeordnete nicht stärker gebunden als die der Union

Das überzeugt den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel zu Recht nicht. Der Mitgliederentscheid entfaltet keinerlei formelle Bindungswirkung für die Abgeordneten. Diesen bleibt es unbenommen, die Person zum Bundeskanzler zu wählen, die sie für richtig halten.

Zwar wird das Ergebnis des Mitgliederentscheids einen gewissen faktischen Zwang begründen. Das ist bei der Union aber nicht anders. Denn auch hier handeln den Koalitionsvertrag ja nicht die Abgeordneten, sondern die Parteiführung aus und lassen ihn anschließend durch besondere Parteigremien absegnen.

Wenn die SPD statt eines Parteigremiums sämtliche Mitglieder befragt, ist dies allenfalls ein gradueller Unterschied. Die Abgeordneten der SPD sind also bei der Wahl des Bundeskanzlers weder mehr noch weniger gebunden als diejenigen der Unionsfraktion.

Rolle der Parteien bei der Regierungsbildung

Wenn man verfassungsrechtliche Bedenken geltend machen will, muss man die bedeutende Rolle der Parteien bei der Regierungsbildung insgesamt hinterfragen. Wie ist es zu rechtfertigen, dass der Koalitionsvertrag zwischen den Parteien und nicht zwischen den potenziellen Regierungsfraktionen ausgehandelt und geschlossen wird? Immerhin soll der Bundeskanzler letztlich ja von den Abgeordneten und nicht von den Parteien oder deren Mitgliedern gewählt werden.

Eigentlich müsste man also verlangen, dass es allein diese Abgeordneten sind, die den Koalitionsvertrag aushandeln und unterzeichnen. Zwar sind sowohl Angela Merkel und auch Sigmar Gabriel Mitglieder des Bundestages. Das gilt jedoch weder für Horst Seehofer noch für Hannelore Kraft.

Selbst wenn der Koalitionsvertrag als politische Absichtserklärung letztlich für den einzelnen Abgeordneten nicht bindend ist, übt er doch ganz erheblich den faktischen Druck aus, sich während der Legislaturperiode daran zu halten. Ist damit möglicherweise nicht nur der SPD-Mitgliederentscheid, sondern das gesamte bisherige Verfahren der Regierungsbildung aufgrund der prominenten Rolle der Parteien verfassungswidrig?

Abgeordnete nicht formell gebunden

Diese Frage wird man (glücklicherweise) mit einem klaren Nein beantworten können. Denn die besondere Stellung der Parteien in der parlamentarischen Demokratie und ihre Funktion auch bei der Regierungsbildung wird vom Grundgesetz anerkannt: Nach Art. 21 Abs. 1 GG wirken die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mit.

Tatsächlich hängt die Funktionsfähigkeit einer parlamentarischen Demokratie ganz wesentlich von den Parteien ab, da erst diese für die notwendige Interessenbündelung sorgen und mit der Aufstellung eines Wahlprogrammes eine Entscheidung des Wählers ermöglichen. Dieser Einfluss der Parteien wirkt nach der Wahl bei der Bildung der Regierung fort.

Das steht zweifellos in einem Spannungsverhältnis zum freien Mandat des Abgeordneten. Keiner der beiden Grundsätze hat allerdings Vorrang vor dem anderen, vielmehr sind sie schonend in Ausgleich zu bringen. Indem einerseits die Parteien den Koalitionsvertrag aushandeln, die Abgeordneten an diesen aber nicht formell gebunden sind und sich also auch anders entscheiden könnten, wird genau ein solcher Ausgleich herbeigeführt.

Wie auch bei der Fraktionsdisziplin kann und muss man erwarten, dass ein Abgeordneter diesem Druck standhält, wenn er sich im Einzelfall anders entscheiden will. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive kann man den Ausgang des Mitgliederentscheids also gelassen abwarten.

Die Autorin Dr. Pia Lange ist Habilitandin und Assistentin am Institut für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften der Universität Göttingen.

Der Autor Priv.-Doz. Dr. Alexander Thiele ist Akademischer Rat a.Z. ebenda und vertritt derzeit einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Ruhr-Universität in Bochum.

Zitiervorschlag

Alexander Thiele, SPD-Mitgliederentscheid: Die neue Macht der Basis . In: Legal Tribune Online, 02.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10226/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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