In der Neujahrsnacht häuften sich am HBF Köln sowie in Hamburg Eigentums- und Sexualdelikte offenbar ausländischer Tätergruppen. Hans-Jörg Albrecht bezweifelt, dass sie gefasst werden – und erklärt, warum Prävention nur schwer zu leisten ist.
LTO: Herr Professor Albrecht, von Diebstählen und Fällen sexueller Belästigung in Bahnhofsnähe hört man zwar immer wieder, aber wohl nie zuvor in solcher Häufung wie zur Silvesternacht in Köln. Erleben wir, wie der Bundesjustizminister fragte, hier eine "neue Dimension der organisierten Kriminalität"?
Albrecht: Ich denke nicht. Am Kölner Hauptbahnhof und an vielen anderen Brennpunkten in Großstädten sind das ganze Jahr über Banden von Trickdieben aktiv. Sie werden oft als "Antänzer" bezeichnet aufgrund der Art der Annäherung an die Opfer, schrecken bei Gegenwehr aber häufig auch nicht vor Gewaltanwendung zurück. Diese Truppen werden auch in der Silvesternacht den harten Kern gebildet haben: Überall alkoholisierte Menschen, die gebannt in den Himmel schauen, ein besseres Umfeld kann es für die ja kaum geben.
Zu diesen organisierten Tätern haben sich aber offenbar noch weitere gemischt, was wohl auch zu der Häufung von sexuellen Übergriffen beigetragen hat, die mit Eigentumskriminalität sonst eher nicht einhergehen. Da kamen vermutlich Effekte der Massendynamik zum Tragen: Alkoholisierung, die Anonymität der Masse, der Dauerbeschuss mit Feuerwerkskörpern, ein latentes Aggressionspotential, und ein gegenseitiges Hochschaukeln in Gruppen von Dutzenden jungen Männern.
"Es gibt keinen kulturellen Strafrabatt "
LTO: Jungen, ausländischen Männern, wie Zeugen und Polizei berichten.
Albrecht: Wohl vorwiegend aus Nordafrika, ja. Die Wertschätzung und Zurückhaltung, mit der Frauen dort in manchen Gebieten begegnet wird, sind ganz einfach niedriger als bei uns. Dementsprechend ist auch die Hemmschwelle für Übergriffe bei manchen dieser Männer geringer. Das gilt umso mehr, wenn, was bislang allerdings Spekulation ist, sie erst seit relativ kurzer Zeit im Land und in Gesellschaft und Werteordnung nicht sonderlich gut integriert sind.
LTO: Grünen-Fraktionschefin Kathrin Göring-Eckardt hat in dem Zusammenhang ebenso wie viele weitere Politiker erklärt, es dürfe keinen Rabatt mit Rücksicht auf Herkunft oder Aufenthaltsstatus geben. Muss man das überhaupt betonen?
Albrecht: In Deutschland eigentlich nicht. Im anglo-amerikanischen Raum ist die "cultural defense" tatsächlich verbreitet, und kann dem Täter auf der dort gemeinsam geprüften Ebene von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen helfen. In Deutschland ist das nur in den Grenzen des § 17 StGB der Fall, also beim Irrtum über das Verbotensein der Handlung, der zudem unvermeidbar gewesen sein muss, und von den Gerichten nahezu nie anerkannt wird. Das Wort "Kulturrabatt" wurde eine Zeit lang mal gebraucht, weil der BGH die Motivlage von Ehrenmördern nicht als "niedrige Beweggründe" im Sinne des § 211 StGB ansah. Aber von dieser Rechtsprechung ist er inzwischen auch abgewichen.
LTO: Erwartet die Täter also eine "harte Antwort des Rechtsstaats", wie Angela Merkel sie fordert?
Albrecht: Vermutlich nicht mehr oder weniger als jeden anderen auch. Bei Diebstählen mit eher niedrigem Beutewert und leichteren Körperverletzungen also auch im Wiederholungsfall kaum mehr als ein paar Monate, ggf. auf Bewährung, bei Sexualdelikten allerdings deutlich mehr. Ob man das Strafmaß generell angemessen oder zu niedrig findet, kann man natürlich diskutieren, aber die Forderung, die Täter nun besonders hart zu bestrafen, ist abwegig. Das wäre ja geradezu das Gegenteil eines Kulturrabatts, und rechtlich kaum zu begründen.
Schuld wird nun mal individuell festgestellt – und natürlich können kulturelle Prägungen, soziale Erwartungen, Gruppenzugehörigkeiten usw. einen Menschen zu gewissen Delikten disponieren oder drängen. Deshalb steht niemand über dem Gesetz, aber auch nicht weiter darunter als alle anderen. Davon einmal abgesehen, dürfte die Frage nach dem Strafmaß hier sowieso eher theoretischer Natur sein. Es wird wohl kaum jemand verurteilt werden.
2/2: "Es wird kaum jemand verurteilt werden"
LTO: Wieso das?
Albrecht: Ich wäre erstaunt, wenn mehr als ein ganz kleiner Bruchteil der Täter ermittelt und mit der für eine Verurteilung notwendigen Gewissheit überführt würde. Wie auch? Augenzeugen können Sie vergessen. Stellen Sie sich selbst mal vor, wie gut Sie in der Lage wären, Wochen später aus einer Lichtbildmappe Gesichter zu identifizieren, die Sie zuvor nur ein Mal gesehen haben. Unter Stress, in einer Menschenmasse, bei Nacht, vielleicht auch selbst alkoholisiert. Und dann noch zu sagen, wer von denen nur daneben stand, und wer Ihnen in die Tasche oder den Schritt gegriffen hat. Bei solchen Massenveranstaltungen später einzelne Tatbeiträge verlässlich zuzuordnen, ist fast unmöglich.
Die Bahnhofskameras helfen da auch kaum weiter, denn die Bilder sind meist viel zu niedrig auflösend. Und selbst die Opfer sind größtenteils nicht bekannt. Die letzte mir bekannte Zahl aus Köln sind 90 Strafanzeigen. Bei Delikten dieser Art, wo die Opfer sich selbst ausrechnen können, wie unwahrscheinlich die Ergreifung der Täter ist, machen sich die wenigsten überhaupt die Mühe, zur Polizeistelle zu gehen. In der Dunkelfeldforschung geht man bei solchen Massenversammlungen von einer Anzeigenquote von etwa 15 Prozent aus.
"Normale Kameras zur Videoüberwachung bei großen Menschenmengen nutzlos"
LTO: Was könnte man denn tun, um ähnliche Vorfälle in Zukunft zu verhindern? NRW-Innenminister Jäger kündigte für weitere Großveranstaltungen wie etwa Karneval verstärkte Sicherheitsmaßnahmen an, die Rede war unter anderem von mehr Videoüberwachung.
Albrecht: Zu Karneval ist die Stadt wohl noch mehr und länger im Ausnahmezustand als zu Neujahr, da können Sie unmöglich jeden Fleck filmen. Punktuell ist das natürlich möglich, aber auch eine Frage des Geldes: Es gibt zum Beispiel ultrahochauflösende Überwachungskameras aus dem militärischen Sektor – wenn Sie ein paar davon rund um den Bahnhofsplatz installieren, könnte das schon helfen, um Täter selbst in einer großen Menschenmenge zu identifizieren und wenigstens nachträglich gerichtsfest zu überführen.
Rechtlich ist eine solche Überwachung relativ unproblematisch, wenn sie sich auf öffentliche bzw. halböffentliche Plätze wie das Bahnhofsinnere beschränkt, ein begründeter Anlass besteht und sichergestellt ist, dass die Bilder nachträglich wieder gelöscht werden, soweit sie nicht polizeilich relevant sind.
"Besten Schutz bietet Polizeipersonal vor Ort"
LTO: Was halten Sie in dem Zusammenhang von der Einrichtung von Gefahrenzonen, wie diese etwa in Teilen Hamburgs errichtet wurden?
Albrecht: Gefahrenzonen bedeuten ja nur, dass die Polizei in diesen Gebieten Personen sehr niederschwellig anhalten oder durchsuchen darf. Das Problem liegt bei Großveranstaltungen und auch bei der alltäglichen Diebesbandenaktivität aber weniger im Bereich des Rechtlichen als des Tatsächlichen: Zu wenig Polizeibeamte auf zu viele Menschen, Täter, die ihre Beute schnell beiseite schaffen, etc. Da die einzelnen Delikte meist relativ leichter Art sind, muss man die Personen außerdem schon etliche Male erwischen, bevor sie tatsächlich inhaftiert werden – ganz besonders, wenn sie, was häufig der Fall ist, noch unter das Jugendstrafrecht fallen. Die Polizei versucht auf solche Intensivtäter zu reagieren, indem sie sie unter Beobachtung stellt, aber das erfordert sehr viel Personal – dieses an Brennpunkten aufzustocken, ist wohl auch der erfolgversprechendste Ansatz.
LTO: Die Lage in Köln bezeichnete die dortige Polizei allerdings in einer Pressemitteilung am Neujahrstag noch als "weitgehend ruhig"…
Albrecht: Ich gehe davon aus, dass das ein Versehen derjenigen Person war, die dort die Pressearbeit macht – jedenfalls haben Beamte später durchaus erklärt, dass sie ein ungewöhnlich hohes Maß an Straftaten erlebt hätten; eine Polizistin wurde offenbar sogar selbst belästigt, und es wurde auch Verstärkung gerufen. Die Polizisten waren sicher nicht total ahnungslos, aber das ganze Ausmaß konnten Sie wohl aus denselben Gründen nicht erfassen, aus denen sie es nicht verhindern konnten.
Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Albrecht ist Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i.Br. sowie Honorarprofessor und Mitglied der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist Mitherausgeber mehrerer Publikationen zum Bereich der Kriminologie.
Das Interview führte Constantin Baron van Lijnden.
Constantin Baron van Lijnden, Kriminologe zur Silvesternacht in Köln: "Keine 'neue Dimension der organisierten Kriminalität'" . In: Legal Tribune Online, 06.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18039/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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