Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland: Auf nach Hol­land

von Prof. Dr. Ulrike Lembke

23.11.2017

Bis heute ist der Schwangerschaftsabbruch im deutschen Recht nicht als medizinische Dienstleistung, sondern als Tötungsdelikt geregelt. Was das für die betroffenen Frauen sowie medizinisches Personal bedeutet, beschreibt Ulrike Lembke

Die Forderung "Weg mit § 218!" scheint direkt den 1970er Jahren zu entstammen und nichts mit der heutigen Realität zu tun zu haben. In Gießen steht ab Freitag eine Ärztin vor Gericht, weil sie auf ihrer Website den Schwangerschaftsabbruch neben anderen medizinischen Dienstleistungen aufgeführt hat. Gemäß § 219a StGB drohen ihr dafür eine Geldstrafe oder bis zu zwei Jahre Haft.

Der Schwangerschaftsabbruch ist gemäß §§ 218ff Strafgesetzbuch (StGB) noch immer eine Straftat. Er ist nicht im Recht der medizinischen Dienstleistungen geregelt, sondern im StGB im Abschnitt zu den Tötungsdelikten. Auch Information über die Dienstleistung ist strafbar.

Diese Kriminalisierung hat erhebliche praktische Konsequenzen. Der Schwangerschaftsabbruch ist eine medizinische Dienstleistung, die von immer weniger Arztpraxen und Kliniken überhaupt angeboten wird. Nicht nur im ländlichen Raum müssen betroffene Frauen oft weite Wege auf sich nehmen. Die Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs entspricht oft nicht dem medizinischen Standard. Die Kosten werden grundsätzlich nicht von den Krankenkassen übernommen. Und schließlich fühlen religiöse Fundamentalisten sich berufen, betroffene Frauen unzumutbar zu belästigen, Beratungsstellen zu belagern sowie Ärztinnen und Ärzte nachdrücklich in ihrer Arbeit zu behindern.

Auf internationaler Ebene, aber auch in Deutschland gültig, garantiert Art. 16 Abs. 1(e) der UN-Frauenrechtskonvention Frauen gleiches Recht auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über Anzahl und Altersunterschied ihrer Kinder sowie auf Zugang zu den für die Ausübung dieses Rechts erforderlichen Informationen und Mitteln. Verschiedene UN-Ausschüsse, insbesondere der Ausschuss für ökonomische, soziale und kulturelle Rechte, sehen das Menschenrecht auf reproduktive Gesundheit als wesentlichen Bestandteil des allgemeinen Rechts auf Gesundheit an.

Dies umfasst auch den ungehinderten tatsächlichen Zugang zu entsprechenden medizinischen Dienstleistungen sowie Informationen hierüber, ihre Finanzierbarkeit und Qualität nach medizinischen Standards, die Möglichkeit der Familienplanung, das Angebot von Sexualkunde, finanzierbare bzw. kostenfreie Verhütungsmittel, sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch sowie dessen Nachsorge und vieles mehr. Davon ist Deutschland derzeit weit entfernt.

Kein wohnortnahes Angebot von Schwangerschaftsabbrüchen

Zwar sind die Länder laut § 13 Abs. 2 Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) verpflichtet, ein ausreichendes ambulantes und stationäres Angebot der medizinischen Dienstleistung des Schwangerschaftsabbruchs zu garantieren. Doch zum einen können sie Kliniken nicht zwingen, eine Leistung anzubieten, die keine Kassenleistung ist – und das ist der Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich nicht. Zum anderen bieten viele der – auch aus öffentlichen Mitteln finanzierten – Kliniken grundsätzlich keinen Schwangerschaftsabbruch an, so die 420 Kliniken in katholischer Trägerschaft sowie die einiger privater Träger.

Zudem darf nach der deutschen Regelung in § 12 SchKG jede Person, inklusive ärztlichem und medizinischem Personal, ohne Angabe von Gründen die Beteiligung an einem Schwangerschaftsabbruch (außer bei Lebensgefahr für die Schwangere) verweigern. Dabei hat der UN-Ausschuss für die Frauenrechtskonvention immer wieder betont, dass Krankenhäuser ungewollt schwangere Frauen nicht unter Verweis auf entsprechende Vorbehalte ihres Personals abweisen dürfen.

Die gesetzwidrige Unterversorgung führt zu langen Wegen. Da über 60 Prozent der Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, bereits ein oder mehrere Kinder haben, muss oft auch eine Kinderbetreuung organisiert werden. Dies erschwert es, einen Schwangerschaftsabbruch vertraulich zu halten, und verursacht zusätzliche Kosten. In naher Zukunft droht selbst in Ballungsgebieten eine Unterversorgung. Denn Ärztinnen und Ärzte im Rentenalter, die bisher ambulante Schwangerschaftsabbrüche angeboten haben, finden keine Nachfolge.

Hetze und Verleumdung gegen Ärztinnen und Ärzte

Zum Nachwuchsproblem dürfte auch beitragen, dass Ärztinnen und Ärzte nicht nur abstrakt von Kriminalisierung bedroht sind. Sie werden verleumdet, belästigt und mit Anzeigen überzogen. Sog. Lebensschützer führen online Listen mit "Abtreibungsärzten", die sie als "Tötungsspezialisten" verunglimpfen, und sie verteilen Flugblätter, in denen sie Schwangerschaftsabbrüche mit dem Holocaust gleichsetzen. Im November 2015 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass beides von der Meinungsfreiheit gedeckt sei.

Wesentlicher Hintergrund waren zum einen die Regelungen in §§ 218 ff StGB. Die Gerichtsmehrheit fand die Rechtslage so verwirrend, dass sie entschied, es müsse sich um ein hoch komplexes und hoch umstrittenes Thema handeln, weshalb der Meinungsfreiheit der Vorrang gebühre. Zum anderen zeigte die beklagte Bundesregierung bemerkenswerte Bereitschaft, den Prozess zu verlieren. Sie organisierte keinerlei Unterstützung, während der Kläger drei weltweit agierende Anti-Abtreibungs-Organisationen (ADF, ALfA, ECLJ) an seiner Seite versammeln konnte, deren Argumente sich im Urteil wiederfinden.

Die Richterinnen Helena Jäderblom und Ganna Yudvinska konnten sich nicht mit der Auffassung durchsetzen, dass kein öffentliches Interesse existiert, im Einklang mit der Rechtsordnung arbeitende Gynäkologen durch Holocaust-Vergleiche zu diskreditieren. Die betroffene Arztpraxis musste den Standort wechseln. Ungewollt Schwangere hatten vor dem EGMR gar keine Stimme.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Ulrike Lembke , Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland: Auf nach Holland . In: Legal Tribune Online, 23.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25679/ (abgerufen am: 18.03.2024 )

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