Reform des Strafvollzugsgesetzes NRW: Reintegration und Opferschutz nicht gegeneinander ausspielen

von Prof. Dr. Christine M. Graebsch und Dr. Sven-U. Burkhardt

30.05.2014

In NRW ist eine Reform des Strafvollzugsgesetzes in Arbeit. Opfer sollen erfahren können, wann ein Täter entlassen und wohin er ziehen wird. Der Reintegration ist das kaum dienlich, meinen Christine Graebsch und Sven-Uwe Burkhardt. Wird der neue Wohnort öffentlich bekannt, wünscht sich so mancher Täter gar ins Gefängnis zurück. Wie praktisch, dass die Reform auch das ermöglicht.

Nach Bekanntwerden des Gesetzesentwurfs der nordrhein-westfälischen Landesregierung für ein Strafvollzugsgesetz gab Justizminister Kutschaty dem Spiegel ein Interview. Im Zusammenhang mit seiner bekundeten Absicht, den Strafvollzug zu reformieren, ging er dabei auf nur zwei Regelungsbereiche ein, die ihm wohl als besonders bedeutsam erscheinen: Die Möglichkeit für Gefangene, nach der Entlassung auf freiwilliger Basis in die Haftanstalt zurückzukehren sowie Auskunftsansprüche für Opfer von Straftaten, zum Beispiel betreffend die Entlassungsadresse.

Eine "opferbezogene Vollzugsgestaltung" wurde insbesondere von dem jüngst verstorbenen Justizvollzugsbeauftragten Michael Walter in die Debatte eingebracht. Es war sein Anliegen, Opferinteressen nicht gegen die Resozialisierung der Gefangenen auszuspielen und dementsprechend gibt der aktuelle Gesetzesentwurf vor, dass Opferschutz und Tatausgleich mit der Eingliederung der Gefangenen in Einklang zu bringen seien. Inwieweit diese Forderung mit dem vorgelegten Entwurf allerdings erfüllbar ist, ist eine andere Frage.

Möglichkeit zur Rückkehr ein Gefallen an entlassene Gefangene?

Der Gesetzesentwurf entsteht zu einer Zeit, in der sich eine erdrückende gesellschaftliche Mehrheit ausschließlich mit dem potentiellen Opfer identifiziert, nach dem Motto: "Wenn mir oder meiner Familie so etwas passieren würde, würde ich wollen, dass…". Die Menschenrechte der Gefangenen werden dabei ebenso ausgeblendet wie die Folgen für die realen Opfer.

In einem solchen gesellschaftlichen Klima den Opferschutz als einen zusätzlichen Gesichtspunkt in ein Strafvollzugsgesetz aufzunehmen, ist politisch bedenklich. Ebenfalls fragwürdig ist die öffentliche Akzentsetzung durch Herrn Kutschaty. In dem erwähnten Interview erwähnt er für die Strafvollzugsreform im Interesse der Gefangenen zunächst einzig und allein die Möglichkeit, nach der Entlassung freiwillig in den Vollzug zurückzukehren – als wäre für Gefangene das Problem des Strafvollzugs, dass dieser irgendwann endet.

Dem schließt sich sofort die Frage an, ob denn auch (!) den Opfern geholfen werde. Als Beispiel dafür führt der Justizminister  die Pflicht an, dem Opfer (auf schriftlichen Antrag) die Entlassungsadresse zu nennen. Das war aber auch schon nach § 180 Abs. 5 S. 2 des bisher geltenden Strafvollzugsgesetzes möglich, ist also nicht einmal neu. Es scheint der Landesregierung aber daran gelegen, diese und einige andere Regelungen unter dem Stichwort "opferbezogene Vollzugsgestaltung" zu vermarkten. Damit ist eine Vielzahl von Problemen verbunden. Die Mitteilung der Entlassungsadresse dient nach dem Gesetz der besseren Durchsetzbarkeit von Schadensersatzforderungen der Opfer, die aber auch anderweitig möglich wäre, etwa durch die Angabe von (anwaltlichen) Zustellungsbevollmächtigten, erst recht aber durch die Zahlung von Tariflöhnen im Strafvollzug.

Bekanntwerden der Adresse erschwert Reintegration

Die Entlassungsadresse bekannt zu geben, legt insbesondere im Fall von Sexualstraftätern die Lunte an ein politisches Pulverfass. Berühmtheit erlangten einige extreme Fälle, in denen Entlassene, nachdem ihr Wohnort bekannt geworden war, keinen Platz zur Rückkehr in die Gesellschaft finden konnten. In einem Fall in Heinsberg (NRW) etwa war die Gegenwehr der Bürger so langanhaltend und massiv, dass der zuvor Entlassene sich schließlich "freiwillig" zurück ins Gefängnis begab. In dem Fall war dies eine sozialtherapeutische Anstalt, in die die Rückkehr bereits nach bisherigem Recht möglich gewesen ist.

Auch in weniger bekannten Fällen finden vor der Entlassung stehende Gefangene selbst mit Unterstützung etwa der Sozialdienste von Vollzugsanstalten keine Wohnmöglichkeit. Sogar spezielle Einrichtungen der Straffälligenhilfe winken ab, weil sie öffentliche Aufmerksamkeit und somit schlechtere Reintegrationsmöglichkeiten für die übrigen Bewohner fürchten. Für die Reintegration - und damit verbunden auch die Prävention neuer Straftaten und den Opferschutz - ist dies kontraproduktiv.

Durch die Mitteilung von Entlassungsadressen könnten solche Situationen hervorgerufen werden. Eine Rückkehr in die Anstalt stellt dann eine Bankrotterklärung für das sogenannte Übergangsmanagement dar, dessen Bedeutung für die Vermeidung von Rückfällen gerade während der ersten Monate nach der Entlassung derzeit in aller Munde ist. Statt aber gezielt sozialarbeiterische Unterstützungsangebote auszuweiten und außerdem den Vollzug von Anfang an auf Reintegrationsbemühungen auszurichten und diese nach der Entlassung konsequent fortzusetzen, werden eine mögliche freiwillige Rückkehr und die Bekanntgabe der Entlassungsadresse öffentlich als die zentralen Punkte des Gesetzesentwurfs hervorgehoben.

Verpasste Chancen einer Neuregelung

An anderer Stelle wird hingegen die Chance zu sinnvollen Neuerungen verpasst. Eine Reduzierung der Ermessensspielräume der Haftanstalten etwa hätte es den Gefangenen erlaubt, die gesetzlichen Vorgaben nicht nur als Pflichten wahrzunehmen, sondern auch als Schutz gegenüber willkürlichem Handeln. In den allermeisten Bereichen des Gesetzentwurfes werden Entscheidungen aber bewusst als Ermessensentscheidungen der Anstalt konstruiert, die einer gerichtlichen Überprüfung nur eingeschränkt unterliegen. So besteht zum Beispiel im Bereich der vollzugsöffnenden Maßnahmen wie dem Ausgang weiterhin nur der Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung.

Wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat (Beschl. v. 29.02.2012, Az. BvR 368/10), ist kaum jemals ein Gefangener für Ausführungen, also das Verlassen der Anstalt in Begleitung von Vollzugsbeamten, ungeeignet. Trotzdem werden auch Ausführungen immer wieder nicht gewährt. Zwingend sieht der Gesetzentwurf sie nur bei langjährig Inhaftierten vor, und auch für diese ohne Festlegung einer Mindestzahl. Weiterhin ist zwar eine Pflicht vorgesehen, die Gründe einer ablehnenden Entscheidung zu dokumentieren, nicht jedoch, diese Gründe auch dem Gefangenen schriftlich mitzuteilen.

Wer geglaubt hat, Nordrhein-Westfalen habe sich deswegen so lange Zeit mit seinem Landesstrafvollzugsgesetz gelassen, weil wirkliche Neuerungen im Hinblick auf die Eingliederung von Gefangenen eingeführt werden sollten, kann von dem Entwurf nur rundum enttäuscht werden.

Die Autorin Prof. Dr. Christine M. Graebsch ist Hochschullehrerin an der FH Dortmund und Leiterin des dortigen Strafvollzugsarchivs. Der Autor Dr. Sven-U. Burkhardt ist Rechtsanwalt und Vertretungsprofessor an der FH Dortmund.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Christine M. Graebsch und Dr. Sven-U. Burkhardt, Reform des Strafvollzugsgesetzes NRW: Reintegration und Opferschutz nicht gegeneinander ausspielen . In: Legal Tribune Online, 30.05.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12113/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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