Ab 2014 müssen auch zivilgerichtliche Urteile mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen sein, allerdings nur in Verfahren ohne Anwaltszwang. Einhellig haben die Bundestagsabgeordneten das Gesetz verabschiedet, der Bundesrat hatte nichts zu bemängeln und auch die Anwaltsverbände hielten sich mit Kritik zurück. Was sich wirklich ändert und warum das durchaus sinnvoll ist, erläutert Hanns Prütting im LTO-Interview.
LTO: In der vergangenen Woche hat der Gesetzgeber die Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess beschlossen. Wieso gab es das bisher nicht?
Prütting: Das hat historische Gründe. Die Zivilprozessordnung ist von 1877, ist also eines der ganz alten Reichsjustizgesetze. Damals kannte man so was wie Belehrungen nicht. Die Parteifreiheit wurde noch sehr hoch gehalten. Die Verwaltungsgerichtsordnung oder das Sozialgerichtsgesetz, die beide Rechtsbehelfsbelehrungen kennen, sind dagegen erst nach 1949 entstanden. Diese öffentlich-rechtlichen Verfahrensordnungen haben einen moderneren Zuschnitt.
LTO: Die ZPO ist in den letzten Jahrzehnten aber doch auch immer wieder reformiert worden.
Prütting: Das ist richtig. Man hat aber merkwürdigerweise immer gesagt, im Zivilprozess gebe es so viele denkbare Rechtsbehelfe, dass es zu schwierig sei, eine einheitliche Belehrungspflicht einzuführen.
LTO: Aber das ist doch eigentlich ein Argument für eine Rechtsbehelfsbelehrung?
Prütting: Ganz genau. Das ist wenig einleuchtend. Zumal der Gesetzgeber jetzt umgekehrt auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verweist, in der es hieß, im zivilrechtlichen Klageverfahren sei das Rechtsmittelsystem überschaubar (Anm. d. Red.: Beschl. v. 20.06.1995, Az. BvR 166/93). Das ist wirklich widersprüchlich.
"Vielleicht würde das BVerfG heute eine Rechtsbehelfsbelehrung verlangen"
LTO: Warum will der Gesetzgeber das nun ändern?
Prütting: 2009 hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass bei einer Zwangsversteigerung aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Rechtsbehelfsbelehrung erteilt werden müsse, obwohl dies nicht gesetzlich vorgeschrieben war (Anm. d. Red.: Beschl. v. 26.03.2009, Az. V ZB 174/08). Daraufhin haben dann die Justizminister der Länder beschlossen, dem Bund vorzuschlagen, eine solche Rechtsbehelfsbelehrung generell einzuführen.
LTO: Würden Sie denn auch sagen, dass schon das Grundgesetz eine Rechtsbehelfsbelehrung gebietet?
Prütting: Das BVerfG hat in der eben schon genannten Entscheidung gesagt, dass die Verfassung eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht erzwingt. Allerdings hat der verfassungsrechtlich vorgegebene Pflichtenkatalog des Richters gegenüber nicht-anwaltlich vertretenen Parteien sich zunehmend erweitert. Gerade im Bereich der Zwangsversteigerungen haben die Karlsruher Verfassungsrichter seit vielen Jahren die Anforderungen an die Gerichte verschärft. Richter oder Rechtspfleger müssen in Versteigerungsverfahren bestimmte Hinweise geben oder verhindern, dass ein Grundstück verschleudert wird, notfalls muss von Amts wegen ein neuer Termin angesetzt werden. Ich kann mir daher vorstellen, dass das BVerfG heute vielleicht sogar generell sagen würde, dass das Grundgesetz eine Rechtsbehelfsbelehrung verlangt.
LTO: Halten Sie es denn für richtig, dass diese nun bald generell erteilt werden soll – nicht nur in Verfahren der Zwangsvollstreckung?
Prütting: Ja, jenseits der Einzelheiten, über die man streiten kann. Denn es ist ja so, dass diese Pflicht nur in einem relativ schmalen Bereich eingeführt wird. Nämlich dort, wo es keinen Anwaltszwang gibt, der wiederum im Zivilprozess in weiten Teilen gilt.
2/2: "Auch Anwälte können sich über die zulässigen Rechtsbehelfe irren"
LTO: Diese Differenzierung zwischen Verfahren mit und solchen ohne Anwaltszwang hat auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) kritisiert. Halten Sie die Kritik für berechtigt?
Prütting: Das ist ein heikler Punkt. Auf der einen Seite sagt der Gesetzgeber – durchaus einleuchtend –, dass wenn eine Partei einen Anwalt haben muss, das Gericht sie auch nicht zu belehren braucht, denn der Anwalt muss sich auskennen und seinem Mandanten das Verfahren erläutern. Auf der anderen Seite zeigt aber die praktische Erfahrung, dass es immer wieder Anwälte gibt, die sich über die Rechtsbehelfsmöglichkeiten irren oder diese nicht genau kennen.
Verfassungsrechtlich kann sich der Gesetzgeber sicherlich darauf zurückziehen, dass dort, wo Anwaltszwang herrscht, das Gericht nicht unbedingt belehren muss. Praktisch gesehen hätte es aber wohl nahe gelegen, nicht zu differenzieren. In den öffentlich-rechtlichen Verfahrensordnungen gibt es diese Einschränkung ja übrigens auch nicht.
LTO: Führt diese Differenzierung denn tatsächlich auch zu einer einseitigen Haftungsverschärfung zu Lasten der Rechtsanwälte, wie der DAV sagt?
Prütting: Das glaube ich nicht. Da gilt nach wie vor dasselbe. Wenn der Anwalt einen Fehler macht, dann muss er eben dafür haften.
"Die Vermutung wird nicht zu widerlegen sein"
LTO: Umgekehrt kann ja auch das Gericht einen Fehler machen. Im Verwaltungsgerichtsprozess führt eine fehlende oder unrichtige Belehrung zu einer Verlängerung der Rechtsbehelfsfrist um ein Jahr. In der ZPO wird das nun über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gelöst. Warum hat der Gesetzgeber da einen anderen Weg gewählt?
Prütting: Das scheint mir eher eine technische Frage zu sein. Die Wiedereinsetzung führt ja faktisch auch dazu, dass eine Jahresfrist in Gang gesetzt wird.
LTO: Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat daran kritisiert, dass eine fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung lediglich eine Vermutung für das fehlende Verschulden des Rechtsbehelfsführers begründet, wenn er eine Frist verpasst. Eine Vermutung, die widerlegbar bleibt. Die Kammer bevorzugt einen unwiderlegbaren Verschuldensausschluss als Folge fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrungen. Wäre das tatsächlich eine bessere Lösung?
Prütting: Diese Kritik leuchtet mir nicht ein. Wie soll man denn diese Vermutung widerlegen können? Ich halte es für ausgeschlossen, dass man jemandem wird nachweisen können, dass er eigentlich über die Voraussetzungen für den Rechtsbehelf Bescheid wusste.
"Gesetzesänderung hat wenig Aufmerksamkeit bekommen"
LTO: Die BRAK hält es außerdem für nicht hinnehmbar, dass nur dann belehrt werden muss, wenn es überhaupt einen statthaften Rechtsbehelf gibt.
Prütting: Das stimmt allerdings. Der Richter muss nicht in das Urteil schreiben, dass es keinen Rechtsbehelf mehr gibt. Das könnte bei der Partei Raum für Spekulationen lassen.
Allerdings sind die Fälle, in denen kein Anwaltszwang besteht und kein Rechtsbehelf mehr gegeben ist, extrem selten. Die Parteien können ja mittlerweile sogar bei einem Streitwert unter 600 Euro die Zulassung der Berufung beantragen.
LTO: Hat das Fehlen einer Rechtsbehelfsbelehrung bisher zu vielen unzulässigen und verfristeten Klagen geführt?
Prütting: Davon habe ich nicht gehört, das wird kein großes Problem sein. Die Richter sind da auch sehr großzügig. Verwechselt etwa jemand die Wörter Widerspruch und Einspruch, dann wird das eben entsprechend ausgelegt.
Das erklärt auch, dass diese Gesetzesänderung bisher wenig Aufsehen erregt hat. Ich habe sogar den Eindruck, dass das Gesetz in den letzten Tagen nur deshalb Aufmerksamkeit bekommen hat, weil der Rechtsausschuss in allerletzter Minute noch etwas völlig anderes in das Artikelgesetz eingebaut hat – nämlich die Entfristung des § 19 Insolvenzordnung (InsO), wonach eine Überschuldung kein zwingender Auslöser für einen Insolvenzantrag mehr ist. Das hat aber ja mit der Rechtsbehelfsbelehrung absolut gar nichts zu tun.
LTO: Vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Hanns Prütting ist Inhaber des Lehrstuhls für deutsches und ausländisches Zivilprozessrecht an der Universität zu Köln. Er ist u.a. Direktor des Instituts für Verfahrensrecht und Mitdirektor des Instituts für Anwaltsrecht.
Das Gespräch führte Claudia Kornmeier.
Prof. Dr. Hanns Prütting, Neue Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess: "Auch Anwälte können sich irren" . In: Legal Tribune Online, 06.12.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7725/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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