Produktrückruf, der 262.: Die Ikea-Tasse

von Prof. Dr. Thomas Klindt

11.06.2013

Diesmal also keine alpine Klettersicherung oder ein kompliziertes elektrisches Werkzeug, sondern ein vermeintlich banales Produkt: Vergangene Woche rief Ikea eine Tasse mit dem zauberhaften Namen Lyda zurück, die nicht jedem Heißgetränk standhält, zersplittern und Verbrühungen verursachen könnte. Thomas Klindt über die Komplexität solcher Rückrufe, die schnell geschäftsschädigend werden können.

Das Szenario ist immer das gleiche: Anzeigen in warnendem Tonfall erscheinen online und offline in just den Medien, mit denen man die noch ahnungslosen Teetrinker, Kletterer oder Heimwerker zu erreichen hofft. Verbunden mit der Warnung werden meist der Umtausch, die Reparatur oder jedenfalls die Nachlieferung bestimmter Teile angeboten.

Ob Verbraucher einen Anspruch auf einen kostenlosen Austausch "Neu für Alt" haben, ist zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt, dürfte aber durch die berühmte "Pflegebetten-Entscheidung" des Bundesgerichtshofs (BGH) aus 2008 entscheidend vorgeprägt sein: Nach Ablauf der Gewährleistungsfrist ist ein außergesetzlicher Ersatzanspruch kaum vorstellbar.

Der Anwalt als mutiger Dompteur

Die wahre Herausforderung bei Produktrückrufen ist aber nicht die rechtliche Subsumtion, weder unter die produkthaftungsrechtlichen Pflichten des Herstellers noch unter die vertragsrechtlichen Regressmöglichkeiten in der Lieferkette. Kriegsentscheidend ist die intelligente, smarte und koordinierte Steuerung des roll-out. Ein Rückruf ist Krisenmanagement an der Schnittstelle zwischen Recht und Kommunikation – mindestens: Oft reden auch noch die Vertriebsabteilung, die Einkaufsabteilung oder zum Beispiel das Investor Relationship in die Planung einer Rückrufaktion herein. Der Anwalt ist dann als Koordinator, innerbetrieblicher Mediator und manchmal auch als mutiger Dompteur gefragt.

Relativ einfach sind die Konstellationen, in denen das Unternehmen die Besitzer der potentiell gefährlichen Produkte namentlich kennt, etwa im e-Commerce, wenn die E-Mailadressen der Kunden gespeichert werden, oder bei Garantiekarten mit einem Adressfeld. In solchen Konstellationen ist es möglich, die Besitzer der gefährlichen Produkte individuell anzuschreiben, vor der Gefährlichkeit des Produkts zu warnen und in die Rückrufabwicklung einzubinden.

Dramatisch anders sieht die Situation aus, wenn das Produkt über die Ladentheke anonym verkauft wurde oder in einem namenlosen Markt verschwunden ist. Denn nun steht jede Rückrufaktion vor dem Problem, den ahnungslosen Benutzer über einen diffusen Medienmix erreichen zu müssen, was selbst für Profis oft zu dem ernüchternden Ergebnis einer Response-Quote von maximal 15 bis 20 Prozent führt.

Am Ende bleiben viele gefährliche Produkte im Markt

Rückrufe sind also selbst bei professioneller Vorbereitung, intensivem Internet-Screening, offensiver Marktkommunikation und routinierter Logistik eine Schutzmaßnahmen, an deren Ende eben doch eine hohe Anzahl von gefährlichen Produkten im Markt verbleibt. Und dies liegt nicht daran, dass das Zurückbringen der Tasse mehr Sprit kostet als die Tasse selbst wert ist.

Trotzdem: Produktrückrufe müssen bei einem Sicherheitsrisiko schlicht angegangen werden. Andernfalls drohen der Geschäftsführung strafrechtliche Risiken. Denn seit der "Lederspray"-Entscheidung des BGH aus 1990 ist jedem Fachmann klar, dass einem strafrechtliche Verfolgung droht, wenn man ein sicherheitskritisches Produkt wider besseren Wissens im Markt belässt und den Nutzern anschließend gesundheitlich etwas passiert, diese gar sterben.

Ikea-Rückruf vorbildlich

Dass daneben der 6. Zivilsenat in ständiger Rechtsprechung zu § 823 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch auch die Produktbeobachtung (also das after-sales-monitoring) als eigene Rechtspflicht ausgestaltet und bei identifizierten Gefahren eine korrespondierende Gefahrabwendungspflicht postuliert hat, kommt zivilrechtlich hinzu. All dies hat dazu geführt, dass sowohl im Verhältnis zwischen Unternehmern als auch zu Verbrauchern eigene Versicherungsmodelle entstanden sind, mit denen Rückrufkosten gedeckt werden können – kaufmännisch häufig fast wichtiger als die klassische Versicherung gegenüber einem Produkthaftungsfall.

Letzterer ist gewiss nicht schön und gewiss finanziell auch schadensträchtig. Der Aufwand für Produktrückrufe übersteigt diese Schadenssummen aber meist brutal und kann unternehmensgefährdend sein. Denn Unternehmen haben heutzutage einen internationalen Produktvertrieb in unzähligen Staaten, auch außerhalb der EU. Kann aber die Distribution des unsicheren Produkts nicht trennscharf auf einzelne Regionen beschränkt werden, kommt letztlich nur ein grenzüberschreitender, also internationaler Produktrückruf in Betracht.

Das löst immense Kosten aus – und übrigens auch die Frage, welche nationalen Behörden über das Sicherheitsrisiko informiert werden müssen. Entsprechende Informationspflichten kennt nicht nur die EU, sondern auch die USA und Kanada oder Israel, Australien und Brasilien. Die "Architektur" solcher internationalen Produktrückrufe sind dann wirkliche Herausforderungen, bei denen Anwalt und Rechtsabteilung Hand in Hand mit oft ungewohnten Koalitionen (zum Beispiel der Kommunikationsabteilung) arbeiten müssen.

Ikea ist im Übrigen auch deshalb ein guter Beispielsfall, weil das Unternehmen dafür bekannt ist, zügig und freimütig über etwaige Produktmängel zu berichten und in vorbildlicher Weise ohne jede Geheimniskrämerei die Kunden schnell zu informieren. Diese Haltung ist wirklich lobenswert. In Zeiten drohender Shitstorms über Facebook, Twitter oder Xing-Blogs ist auch anderen Unternehmen das Rückgrat und die Fortune zu wünschen, ein Sicherheitsrisiko schnell, geräuschlos und effizient zu beseitigen.

Der Autor Prof. Dr. Thomas Klindt ist Partner bei Noerr LLP, auf Product Compliance spezialisiert und in internationalen Produktrückrufen sehr erfahren. Er twittert unter @tomklindt.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Thomas Klindt, Produktrückruf, der 262.: Die Ikea-Tasse . In: Legal Tribune Online, 11.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8899/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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