Pressefreiheit in Ungarn: Von der juristischen Machtlosigkeit Europas

Das ungarische Mediengesetz sorgt für Aufregung in der Europäischen Union. Manche rufen schon nach dem schwersten Geschütz, das der EU-Vertrag kennt: Sie wollen Ungarn wegen Verletzung der Fundamentalprinzipien der Union mit Sanktionen belegen. Tatsächlich ist dies eine eher theoretische Möglichkeit, wenngleich die Klausel im Vertrag durchaus eine wichtige Funktion erfüllt.

Die Fundamentalprinzipien der Europäischen Union beziehungsweise "die Werte, auf die sich die Union gründet", sind in Art. 2 des EU-Vertrages (EUV) niedergelegt. Im Wesentlichen geht es dabei um Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie um die Achtung und Wahrung der Menschenwürde und fundamentaler Menschenrechte.

Die Schaffung gemeinschaftlicher Sanktionsmöglichkeiten im Falle schwerer Verstöße eines Mitgliedstaats gegen diese Werte wurde schon in den siebziger Jahren diskutiert, erfolgte jedoch erst zwanzig Jahre später mit dem Vertrag von Amsterdam. Die "Causa Österreich" – also die von den übrigen Mitgliedstaaten missbilligte Regierungsbeteiligung des Rechtspopulisten Jörg Haider – zeigte schon wenig später die Grenzen dieser Vertragsbestimmung auf. Daraufhin wurde die Bestimmung in den Verträgen von Nizza und Lissabon überarbeitet.

Der Fall des ungarischen Mediengesetzes könnte jetzt erneut die Grenzen auch der modifizierten Vertragsbestimmung (Art. 7 EUV) illustrieren. Denn selbst wenn man von der Annahme ausgeht, dass das Gesetz den europäischen Standards der Medienfreiheit nicht entspricht, wird das wohl kaum zu Sanktionen auf der Basis dieser Vorschrift führen.

Verletzung muss nicht nur schwerwiegend, sondern auch anhaltend sein

Denn schon die sachlichen Voraussetzungen ihrer Anwendung sind sehr eng gefaßt. Allein für die nach dem "Österreich-Fall" gesondert erfassten Vorfeldmaßnahmen bedarf es schon der "eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" der genannten Werte durch einen Mitgliedstaat. Um echte Sanktionen in Gestalt der Aussetzung bestimmter Rechte verhängen zu können, muss sich diese schwerwiegende Verletzung dann tatsächlich verwirklichen und darüber hinaus noch anhaltend sein.

In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass entgegen einer durchaus verbreiteten Ansicht, wie sie sich in zahlreichen Beschwerden an die Kommission manifestiert, nicht etwa jeder Einzelfall, in dem ein –vielleicht sogar schwerwiegender – Grundrechtsverstoß vorliegt, eine solche Verletzung begründen kann. Eine anhaltende und schwerwiegende Verletzung der gemeinsamen Werte kann vielmehr nur dann angenommen werden, wenn ein Mitgliedstaat die Fundamentalprinzipien fortgesetzt und systematisch missachtet, so dass die im jeweiligen Einzelfall möglichen Rechtsbehelfe unzureichend erscheinen.

Ob das ungarische Mediengesetz allein diese Schwelle bereits überschreitet, darf man bei aller Kritik mit Fug und Recht in Frage stellen.

Hohe Hürden: Einstimmigkeit des Europäischen Rates, Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament

Vor allem aber sind die Verfahrensvoraussetzungen für die Aussetzung bestimmter Mitgliedschaftsrechte prohibitiv scharf formuliert. Denn es bedarf dazu einer (mit Ausnahme des betroffenen Mitgliedstaates) einstimmigen Feststellung des Europäischen Rates. Mit dieser Bedingung wurde die Auslösung des Sanktionsmechanismus bewusst dem politischen Ermessen der übrigen Mitgliedstaaten als Gesamtheit überantwortet.

Damit aber nicht genug: Das Europäische Parlament muß ebenfalls mit Zwei-Drittel-Mehrheit zustimmen; das ganze Verfahren kann überhaupt nur auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission eingeleitet werden; und die konkrete Festsetzung der Sanktion muss der Rat anschließend nach Art. 7 Abs. 3, 5 EUV und Art. 354 UAbs. 2, 238 Abs. 3 lit. b des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) noch einmal mit einer besonderen qualifizierten Mehrheit vornehmen.

Dass diese Hürden im Fall des ungarischen Mediengesetzes genommen werden könnten, darf man getrost ins Reich der Fabel verweisen. Damit bestätigt sich die von der Kommission schon 2003 in einer Mitteilung an Rat und Parlament geäußerte Überzeugung, dass die Verhängung von Sanktionen "in dieser Union der Werte nicht notwendig sein wird".

Dennoch ist der Mechanismus nach Art. 7 EUV nicht funktionslos. Er symbolisiert den Willen der Union, auf eine gewisse Mindestkohärenz bei den Fundamentalprinzipien zu achten, und bildet zugleich für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein Mitgliedstaat diese gemeinsamen Grundsätze vollkommen über Bord werfen sollte, ein kodifiziertes letztes Reaktionsmittel. Man darf ihn nur nicht zur "kleinen Münze" machen wollen. Für Verstöße gegen den europäischen Geist unterhalb der von Art. 7 EUV markierten Schwelle gibt es hinreichend politische Druckmöglichkeiten, um einen ins Abseits geratenen Mitgliedstaat zur Rückkehr auf den Boden des Unionskonsenses zu bewegen. Das wird sich auch im Falle Ungarns erweisen.

Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz, ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Ausländisches Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Zitiervorschlag

Ralph Alexander Lorz, Pressefreiheit in Ungarn: Von der juristischen Machtlosigkeit Europas . In: Legal Tribune Online, 20.01.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2371/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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