NSU-Verfahren: Ein bürokratisches Trauerspiel

Schon jetzt ist klar, der Prozess gegen Beate Zschäpe wird kein Gerichtsverfahren wie jedes andere. Dabei verlangt ein Rechtsstaat doch genau das: einen ganz normalen Strafprozess. Volker Boehme-Neßler beneidet die Richter am OLG München nicht, die nicht nur ein korrektes Verfahren zu führen hätten, sondern auch wiedergutmachen müssten, was die Sicherheitsbehörden angerichtet haben.

Das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte sind völlig eindeutig. Egal, welche Tat angeklagt ist: Jeder Angeklagte hat einen Anspruch auf ein faires Verfahren. Nicht die Öffentlichkeit führt den Prozess und spricht das Urteil; sondern unabhängige Richter, die unbeeinflusst von äußeren Einwirkungen nach einer umfassenden, akribischen und fairen Hauptverhandlung zu einem Urteil kommen müssen. So schwer bereits das ist: Im NSU-Prozess wird es noch lange nicht ausreichen. Denn dieser Strafprozess ist nicht nur ein normales Strafverfahren, sondern auch ein Symbol.

Jedenfalls im demokratischen Rechtsstaat steht die Justiz exemplarisch für Recht und Gerechtigkeit. Bisher erfüllt sie diese symbolische Funktion auch. In den modernen rechtsstaatlichen Demokratien herrscht weithin das Gefühl, im Rechtssystem herrsche Sicherheit und Gerechtigkeit. Richter genießen ein hohes Sozialprestige. Gerichte gelten – das zeigen Umfragen immer wieder – als besonders vertrauenswürdige Institutionen. Daran ändert es wenig, wenn einzelne Urteile der Gerichte in der Gesellschaft auf Unverständnis stoßen und heftig kritisiert werden. Auch spektakuläre Fehlurteile haben das Urvertrauen der Gesellschaft in ihre Justiz bisher nicht wesentlich erschüttert.

Aber das Vertrauen der Bürger muss immer wieder neu gewonnen und gefestigt werden. Ein wichtiges Mittel dafür sind spektakuläre Prozesse, die große Aufmerksamkeit genießen. An solchen Leit-Verfahren wird exemplarisch vorgeführt, dass und wie eine Gesellschaft Konflikte gerecht regeln kann. Jeder kann sehen, wie die Justiz arbeitet und welche Ergebnisse sie erzielt.

Das Gericht hat eine doppelte Aufgabe

Das hängt aber auch davon ab, was die Bürger bei spektakulären Prozessen sehen und wie sie es verstehen und deuten. Und genau darin liegt die große, symbolische Bedeutung des NSU-Verfahrens. Die deutschen Sicherheitsbehörden haben versagt. Der Untersuchungsausschuss des Bundestags fördert immer neue, erschreckende Details ans Tageslicht. Der Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) München soll nun zeigen, dass wenigstens die Justiz funktioniert und in einem fairen Prozess ein gerechtes Urteil finden kann. Dann ist das Vertrauen der Bürger in ihren Staat wieder gefestigt.

Bis jetzt ist der NSU-Prozess allerdings ein bürokratisches Trauerspiel. Selbstverständlich ist es prozessrechtlich in Ordnung, wie das OLG München die Plätze an die Presse verteilt hat. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst – nach diesem Grundsatz vergeben viele Gerichte ihre Presseplätze. Den Richtern war aber nicht klar, dass sie eine doppelte Aufgabe haben. Sie müssen den Prozess nicht nur so führen, dass er einer Revision standhalten kann. Sie müssen darüber hinaus auch in die Öffentlichkeit kommunizieren, dass der Staat durch seine Gerichte seine Bürger schützt und Gerechtigkeit verwirklicht.

Das ist bisher nicht einmal ansatzweise gelungen. Das Gericht wird als starrsinnige und unsensible bürokratische Institution wahrgenommen, die keine Rücksicht auf die Interessen der Opfer nimmt, die fast alle neben ihrer deutschen Staatsbürgerschaft türkische Wurzeln hatten. Im Interesse der Integration muss das Gericht zeigen, dass das Versagen der Behörden eine furchtbare Panne war.

Die Münchner Richter sind nicht zu beneiden

Die Richter in München müssen den Verdacht ausräumen, der Staat wolle ausländische Bürger weniger schützen. Sie müssen wiedergutmachen, was die Sicherheitsbehörden angerichtet haben. Natürlich nicht juristisch, aber politisch, moralisch und psychologisch. Vor diesem Hintergrund ist es ein fatales Signal, dass ausgerechnet türkischen und internationalen Medien der Besuch der mündlichen Verhandlung erschwert wird.

Auch wenn der Einstieg in den Prozess verunglückt ist: Verloren ist noch nichts. Das OLG München wird sich nun aber entscheiden müssen. Es kann sich weiterhin hinter seiner formaljuristischen Logik verschanzen und ausblenden, wie das in der Öffentlichkeit ankommt. Der Prozess würde dann wahrscheinlich juristisch einwandfrei und revisionssicher durchgeführt. In der internationalen Öffentlichkeit aber entstünden viele Missverständnisse und Unklarheiten und das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung in die Justiz könnte Schaden nehmen.

Es gibt aber auch eine andere Möglichkeit: Die Münchner Richter akzeptieren, dass sie eine doppelte Aufgabe haben. Sie müssen nicht nur ein faires Verfahren führen. Sie müssen der Öffentlichkeit auch beweisen, dass der deutsche Staat trotz aller Pannen funktioniert, wenn es darauf ankommt. Sie müssen bei allem, was sie tun, die internationale Öffentlichkeit im Blick behalten. Das Gericht ist um diese Aufgabe nicht zu beneiden. Aber es sollte sich ihr stellen.

Der Autor Prof. Dr. jur. habil. Dr. rer. pol. Volker Boehme-Neßler lehrt u.a. Medienrecht in Berlin. Zuletzt erschien von ihm: BilderRecht. Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Rechts. Springer Verlag Heidelberg, und: Die Öffentlichkeit als Richter? Litigation-PR als neue Methode der Rechtsfindung. Nomos Verlag Baden-Baden.

Zitiervorschlag

Volker Boehme-Neßler, NSU-Verfahren: Ein bürokratisches Trauerspiel . In: Legal Tribune Online, 03.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8448/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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