Genfer Flüchtlingskonvention, EU-Richtlinien und Grundgesetz: Daniel Thym erläutert, warum eine Obergrenze für Flüchtlinge in Deutschland oder Österreich nicht durch den Alleingang eines Nationalstaats realisierbar ist.
Politisch gründet der Reiz der Obergrenzen auf ihrer intuitiven Verständlichkeit, wenn die Politik verspricht, die Migration mit mathematischer Präzision zu steuern. Nun passen jedoch Ziel und Wirklichkeit gerade in der Flüchtlingspolitik nicht immer zusammen. Obergrenzen sind leicht zu verkünden, aber schwer umzusetzen. Das zeigt unter anderem das aktuelle Beispiel Österreichs, das gerade eine Obergrenze für Flüchtlinge vereinbarte.
In der Sache ist die österreichische Obergrenze zuerst einmal eine politische Zielvorgabe, deren Umsetzung bewusst offen gelassen wurde. Vor allem hat das Nachbarland Deutschlands (noch) nicht beschlossen, Asylbewerber künftig an der Grenze abzuweisen, sobald die fixe Anzahl erreicht ist. Dieses Zögern hat auch mit dem Recht zu tun, weil aus verschiedenen Gründen unklar ist, ob Obergrenzen überhaupt eingeführt werden dürfen. Solche Begrenzungen haben nämlich einen vierfachen Haken, der die Umsetzung wesentlich erschwert.
Nur EU-Gesetzgeber kann Obergrenzen dauerhaft etablieren
Erstens können dauerhafte und rechtsverbindliche Obergrenzen nur vom europäischen Gesetzgeber beschlossen werden, weil die allermeisten Asylbewerber derzeit einen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) erhalten, der ebenso wie der sogenannte subsidiäre Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge in EU-Richtlinien niedergelegt ist. Diese gewähren, ebenso wie das Grundgesetz, einen Anspruch auf eine Einzelfallprüfung, wie jüngst auch der Präsident des Europäischen Gerichtshofs betonte. Für eine Änderung müsste die EU-Kommission einen Vorschlag machen, dem sodann eine Mehrheit der Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament zustimmen müsste.
Nun kann man versuchen zu argumentieren, dass Art. 72 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) es den Mitgliedstaaten gestatte, das EU-Recht außer Kraft zu setzen. Garantiert ist dies jedoch nicht, zumal sich in der Asyl-Qualifikations-Richtlinie 2011/95/EU spezielle Klauseln für eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit finden. Kurzfristige Maßnahmen lassen sich nach Maßgabe einer Verhältnismäßigkeitskontrolle eventuell rechtfertigen, aber dauerhafte Lösungen würden wohl kaum vor Gericht bestehen.
Genfer Flüchtlingskonvention und Grundgesetz als Auffangbecken
Zweitens steht nicht fest, ob eine Obergrenze für Flüchtlinge mit den deutschen Grundrechten und der GFK vereinbar wäre. Mehr oder weniger sicher ist dies nur beim subsidiären Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge vorauszusagen, weil der Europäische Gerichtshof in Luxemburg ausdrücklich betonte, dass es sich beim subsidiären Schutz um ein autonomes Schutzkonzept handelt, über dessen Umfang der EU-Gesetzgeber entscheidet.
Unsicher hingegen ist, ob dies auch für Flüchtlinge im Sinn der GFK gilt, zumal deren konkrete Bestimmung unklar bleibt, weil es keine maßgebende Auslegungsinstanz auf internationaler Ebene gibt. Es spricht zwar einiges dafür, dass die Konvention kein Individualrecht auf einen Flüchtlingsstatus umfasst. Dies beträfe dann aber nur die offizielle Verleihung eines Rechtstitels mit Folgerechten von der Freizügigkeit bis hin zum Sozialleistungszugang. Das Verbot der Nichtzurückweisung nach Art. 33 GFK ist unstreitig als Garantie eines jedes Einzelnen ausgestaltet.
Hinzu kommt, dass Art. 18 der EU-Grundrechtecharta so interpretiert werden kann, dass dieser eine Pflicht zur Flüchtlingsanerkennung auch dann enthält, wenn die GFK kein Individualrecht auf Anerkennung als Flüchtling umfasst. Wenn dem so wäre, könnten feste Obergrenzen für Flüchtlinge nur durch eine umfassende Vertragsänderung auf EU-Ebene erreicht werden. Das dauert Jahre und ein Erfolg wäre nicht garantiert.
Drittens brächte eine Obergrenze nur für den subsidiären Schutz wenig. Sobald die Quote für Bürgerkriegsflüchtlinge voll ist, könnten alle Personen, die es nach Deutschland oder Österreich schaffen, prüfen lassen, ob im Einzelfall nicht doch eine Verfolgung droht und deshalb Flüchtlingsschutz nach der GFK oder ein Asylstatus nach dem Grundgesetz zu gewähren ist. Langwierige Rechtsstreitigkeiten wären vorprogrammiert, wenn man eine Höchstgrenze nur für Bürgerkriegsflüchtlinge einführte. Speziell für Deutschland heißt dies, dass eine wirkungsvolle Obergrenze, die lange Rechtsstreitigkeiten umgeht, immer auch das Grundgesetz ändern müsste.
2/2: Abschiebeverbote gelten auch bei Obergrenzen
Der vierte Haken: Ein erfolgloser Asylantrag nach einer Quotenüberschreitung bedeutet nicht, dass eine Person automatisch abgeschoben werden darf. Es müsste noch in jedem Einzelfall geprüft werden, ob eine Abschiebung mit den Menschenrechten vereinbar ist. Deutsche und europäische Gerichte betonen seit Jahren, dass eine Abschiebung auch ohne Schutzstatus immer zu unterbleiben habe, wenn etwa eine konkrete Lebensgefahr drohe oder die Lebensverhältnisse unangemessen seien. So verbot das Bundesverfassungsgericht zuletzt mehrfach, Familien mit kleinen Kindern nach Italien zu überstellen, wenn dort die Unterbringung nicht gesichert war.
Solche Entscheidungen würden bei strikten Obergrenzen zunehmen. Es wäre eine Wiederkehr der Situation der neunziger Jahre: Damals gab es weder die großzügige Flüchtlingsanerkennung von heute noch den subsidiären Schutz bei Bürgerkriegen, sodass sehr viel mehr Asylanträge erfolglos blieben als heute. Dies führte aber nicht dazu, dass abgelehnten Asylbewerber in großer Zahl aus der Bundesrepublik ausreisten.
In vielen Fällen ordneten die Gerichte ein Abschiebeverbot an. Selbst wenn die Rückführung rechtlich möglich war, scheiterte diese häufig an der fehlenden Kooperation der Betroffenen und der Herkunftsstaaten sowie am Vollzugsunwillen der deutschen Behörden. Es wurde eine "Duldung" erteilt, die faktisch als Aufenthaltstitel zweiter Klasse diente, auch wenn sie formal nur die Aussetzung der Abschiebung bestätigte. Zu dieser Zeit hatten mehrere hunderttausend Personen einen solch prekären Aufenthaltsstatus.
Zwar ist der temporäre Abschiebungsschutz mit weniger Rechten verbunden als der Flüchtlingsstatus oder ein subsidiärer Schutz: Es gibt weniger Sozialleistungen, nur eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten und auch keinen Familiennachzug. Zwar wäre eine Höchstgrenze auch dann, wenn sie nicht konsequent umgesetzt werden könnte, ein Signal an die eigenen Bürger und in alle Welt, dass nicht jeder nach Deutschland oder Österreich kommen soll. All dies ändert jedoch nichts daran, dass feste Obergrenzen keine Ideallösung sind, zumal man Personen, die auf absehbare Zeit in Deutschland bleiben werden, eine vernünftige Integrationsperspektive geben sollte, die eine Duldung eben nicht bietet.
Restriktive Asylpolitik ohne Begleitmaßnahmen wirkungslos
So ist erkennbar, dass feste Obergrenzen vor allem dann etwas bringen, wenn man zugleich sicherstellt, dass von Anfang an weniger Personen kommen, eine Ausreisepflicht in der Praxis auch vollzogen wird und die Gerichte weniger Gründe haben, menschenrechtliche Abschiebeverbote zu verhängen. All diese Ziele können weder Deutschland noch Österreich im Alleingang erreichen. Eine wirkungsvolle Grenzschutz- sowie Abschiebepolitik ist auf die Kooperation der Herkunfts- und Transitstaaten angewiesen.
Ohne solche Begleitmaßnahmen bringt eine restriktivere Asylpraxis mit einer festgelegten Obergrenze wenig. Dies wiederum ist nicht neu, sondern die Logik des Asylkompromisses des Jahres 1992, der nur deshalb funktionierte, weil man die Grundgesetzänderung durch ein ganzes Netz an internationalen Verträgen und praktischen Kooperationsformen ergänzte, die letztlich zum europäischen Asylsystem von heute führten. All diese Maßnahmen kann man auch isoliert verfolgen, ohne dass man feste Begrenzung der Flüchtlingszahl festlegt.
Es geht schlicht darum, das Dublin-System so zu reformieren, dass man Asylbewerber wieder auf andere EU-Staaten verweisen kann. Eine Rückführung nach Italien oder Griechenland werden die Gerichte aber nur dann erlauben, wenn die Aufnahme dort angemessen ist. Ähnliches gilt für die Türkei. Die zeigt, dass feste Obergrenzen mehr versprechen als sie halten können. Sie suggerieren, dass der Nationalstaat die Migration eigenständig steuern könnte. Dies ist jedoch eine Illusion: Ohne europäische Einbettung werden auch die Obergrenzen weitgehend wirkungslos bleiben.
Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA).
Daniel Thym, Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen: Der Nationalstaat hat nicht viel zu sagen . In: Legal Tribune Online, 22.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18244/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag