Mord-Urteil für die Ku'damm-Raser: Alles andere hätte ich nicht ver­standen

2/2: Das Risiko gesehen und hingenommen?

Das Urteil ist eine Zäsur; rechtsdogmatisch überraschend ist es nicht. Wer etwa die einschlägigen Partien zum bedingten Vorsatz im Lehrbuch von Claus Roxin liest, wird keine Stelle finden, mit der er die Ablehnung des bedingten Vorsatzes begründen kann. Das Gegenteil ist der Fall.

Demzufolge argumentierten die Verteidiger der beiden Männer auch nicht rechtsdogmatisch, sondern sachverhaltsbezogen: Die Mandanten hätten sich und ihre Fähigkeiten derart überschätzt, dass sie gleichsam "tatsachenblind" gewesen sein sollen. Sie sollen also das nicht gesehen haben, was jedem anderen klar vor Augen steht: dass man eine Gefahr für sich und andere schafft, wenn man mit 170 km/h elf rote Ampeln in der City-West überfährt.

Zu diesem Vorbringen der Verteidiger ließe sich vieles sagen. Man könnte etwa fragen, weshalb die Selbstüberschätzung den Tätern rechtlich zum Vorteil gereichen soll  - kein Vorsatz -, während das Opfer die Folgen der Selbstüberschätzung in voller Härte zu spüren bekommen hat. Man könnte weiter fragen, wie es derart selbstüberschätzte Menschen, die selbst eine so hohe Gefahr nicht gesehen haben sollen, eigentlich geschafft haben, einigermaßen unbeschadet 25 beziehungsweise 28 Jahre alt zu werden. Rechtlich relevant ist das nicht.

Entscheidend ist vielmehr Folgendes: Was in den Köpfen der Angeklagten vor und während des Rennens vorgegangen ist, ist jedem Außenstehenden verschlossen. Die vom Gericht zu beantwortende Frage, ob die Angeklagten das Risiko gesehen und hingenommen haben, ist daher durch eine Bewertung der objektiven Faktenlage vorzunehmen.

Keine Trennung von Gefährdungs- und Tötungsvorsatz möglich

Diese Wertung aber muss Maximen folgen, die jener Rechtsgemeinschaft vermittelbar sind, für die Recht gesprochen wird bzw. deren verletztes Recht wiederhergestellt werden soll. Ein Beispiel: Wer russisch Roulette spielt und schon von der zweiten der sechs im Lauf befindlichen Kugeln getroffen wird, kann nicht sagen, er habe das Risiko nicht gekannt und dieses nicht hingenommen. Eine solche Aussage wäre nicht nur der Gesellschaft nicht vermittelbar, sondern käme auch einem sogenannten performativen Selbstwiderspruch gleich.

In Berlin haben die Angeklagten nicht nur mit dem eigenen Leben gespielt, sondern auch mit fremden. Rechtsethisch gelten damit strengere Anforderungen an die Frage, über welches Risiko sie sich hätten Rechenschaft ablegen müssen. So kann man nicht mit einer Schrotflinte in eine Menschenmenge schießen und gleichzeitig behaupten, man habe darauf vertraut, dass sämtliche Schrotkugeln vorbeifliegen. Die Raser vom Ku’damm aber sollen, laut Verteidigung, darauf vertraut haben, dass man unfallfrei an rund einem Dutzend roter Ampeln in der Innenstadt Berlins vorbeifliegen könne.

Als Teil dieser Rechtsgemeinschaft möchte ich bekennen: Ich hätte es nicht verstanden, wenn das Gericht dieser Behauptung gefolgt wäre. Ebenso kontraintuitiv schiene es mir, den Angeklagten zu attestieren, sie hätten zwar die Gefährdung von Menschen, nicht aber deren Tod in Kauf genommen: Wer es hinnimmt, dass sich sein Fahrzeug mit 160 km/h in die Fahrerseite eines fremden Autos bohrt, kann nicht ernsthaft glauben, dass das Opfer nicht stirbt, sondern mit dem Verlust einiger Gliedmaßen, querschnittsgelähmt oder im Wachkoma überlebt. Vielmehr lässt ein solch krasser Fall eine Unterscheidung zwischen bedingtem Gefährdungs- und Tötungsvorsatz nicht zu. Ob diese Einschätzung objektives Recht oder meinen subjektiven Erfahrungen in Köln geschuldet ist, wird der Bundesgerichtshof (BGH) entscheiden.

§ 211 StGB ist nicht das richtige Mittel gegen die Raser-Szene

Die Entscheidung sendet ohne Zweifel ein starkes Signal in die Raser-Szene. Doch selbst wenn der BGH das Urteil halten sollte, dürften lebenslange Freiheitsstrafen für Raser die Ausnahme bleiben. Der Vorsitzende in Berlin hat am Montag darauf hingewiesen, dass die Summe der einzelnen konkreten Tatumstände und die Persönlichkeiten der Angeklagten den Ausschlag gegeben hätten, vergleichbar mit anderen Vorfällen im Straßenverkehr sei der Fall der Ku’Damm-Raser nicht.

Um es deutlich zu sagen: § 211 Strafgesetzbuch (StGB) ist nicht das probate Mittel, um dem Treiben der Raser-Szene ein Ende zu bereiten. Angemessener und effektiver wäre eine Ergänzung des Straßenverkehrsstrafrechts. Tatsächlich strebt der Bundesrat die Einführung eines § 315d StGB an, der schon das Veranstalten und die Teilnahme an einem illegalen Autorennen mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht. Werden andere Personen gefährdet, steigt die Strafandrohung auf fünf Jahre, verursacht ein Raser fahrlässig den Tod eines anderen, drohen ihm bis zu 10 Jahre Haft – immerhin doppelt so viel wie für eine fahrlössige Tötung nach § 222 StGB.

So verständlich der Wunsch nach höheren Strafen nach den Ereignissen der vergangenen  Jahre ist: Über diesen Gesetzesvorschlag sollte das politische Berlin noch einmal nachdenken. Denn in vielen Fällen wird sich nicht nachweisen lassen, dass die Raser an einem Rennen teilgenommen haben: Der neue § 315d StGB mit seinen schneidigen Rechtsfolgen liefe dann ins Leere. Vor allem aber begrenzt der Tatbestand seinen Anwendungsbereich auf Fälle, in denen mehrere Fahrer durch die Stadt rasen. Ist aber ein rücksichtsloses "Solo-Rasen" wirklich weniger gefährlich als ein illegales Rennen? Meines Erachtens nein.

Nicht an die Teilnahme an einem Rennen sollte eine adäquate Neuregelung anknüpfen, sondern an die Rücksichtlosigkeit der Fahrweise beziehungsweise an die gewählte Geschwindigkeit. Der richtige Ort für eine Gesetzesänderung wäre § 315c StGB, der die Gefährdung des Straßenverkehrs durch einen Katalog sogenannter Todsünden unter Strafe stellt. Mir scheint es an der Zeit, diese in den 1960er Jahren entwickelte Liste an die heutigen Gefährdungen anzupassen. Wie auch immer der Gesetzgeber und der BGH entscheiden werden: Die Zeiten, in denen gedankenloses Rasen durch deutsche Städte auch folgenlos bleibt, dürften jedenfalls vorüber sein.

Der Autor Professor Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität zu Köln und Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafrechtstheorie und Strafrechtsvergleichung.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. jur. Michael Kubiciel, Mord-Urteil für die Ku'damm-Raser: Alles andere hätte ich nicht verstanden . In: Legal Tribune Online, 28.02.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22224/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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