Die Zwangsmitgliedschaft von Unternehmern in der IHK ist seit jeher umstritten. Das BVerfG hält sie seit 1962 für zulässig, Verfassungsbeschwerden hatten keine Chance. Bis jetzt. Bürgerrechtler Dominik Storr vertritt mehrere Beschwerdeführer, die nun in Karlsruhe Erfolg haben könnten. Unfreiwillig, ohne Gegenleistung, zutiefst undemokratisch? Ein Interview mit einem Überzeugungstäter.
LTO: Herr Storr, Sie sind einer der Vertreter von Unternehmen, die per Verfassungsbeschwerde die Zwangsmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer (IHK) kippen wollen. Woher nimmt man den Elan und die Motivation, gegen eine seit 52 Jahren konstante Karlsruher Rechtsprechung vorzugehen, die gebetsmühlenartig wiederholt, dass die Zwangsmitgliedschaften verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden seien?
Storr: Natürlich wurde ich vor Jahren auch noch belächelt. Etwas Ähnliches habe ich ja hinter mir mit den Jagdgenossenschaften. Erst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) haben wir erreicht, dass man als Grundstückseigentümer nicht dazu verpflichtet werden darf, die Jagd auf seinem eigenen Land zu dulden. Man wird anfangs nur belächelt, aber irgendwann fangen die ersten Gerichte an, Verfahren auszusetzen – das gibt einem dann Hoffnung.
In Sachen IHK-Zwangsmitgliedschaft schauen wir jetzt alle nach Karlsruhe. Und notfalls gehen wir auch zum EGMR.
"Ich gehe von einer Grundsatzentscheidung aus"
LTO: Wer ist wir?
Storr: Ich vertrete mittlerweile rund zwei Dutzend Unternehmer, die sich gegen die Zwangsmitgliedschaft gerichtlich zur Wehr setzen – vier davon vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Weiterer Beschwerdeführer dort ist das Unternehmen von Kai Boeddinghaus, dem Bundesgeschäftsführer des Bundesverbandes für freie Kammern.
LTO: Es scheint nun tatsächlich zu gelingen: Auch wenn das BVerfG betont, die Verfassungsbeschwerden noch nicht zur Entscheidung angenommen zu haben, hat der Senat sie den Ministerien, Länderregierungen und Verbänden zur Prüfung und Stellungnahme vorgelegt. Für wie realistisch halten Sie eine Entscheidung in der Sache?
Storr: Ich gehe schon davon aus, dass das BVerfG entscheiden wird. Das nun eingeleitete Verfahren ist riesig. Es verschlingt enorme Manpower in den adressierten Ministerien und Verbänden – so viel Aufwand betreibt man nicht, wenn man einen vierseitigen Nichtannahmebeschluss machen will. Auch wenn das natürlich noch kein Indiz ist, dass wir das Verfahren gewinnen, gehe ich doch davon aus, dass das BVerfG eine Grundsatzentscheidung treffen wird, die jedenfalls mal für einen gewissen Zeitraum Klarheit bringt.
"Unfreiwillig, ohne Gegenleistung, völlig undemokratisch"
LTO: In der Sache stellen Sie nach eigenen Angaben schon seit Jahren und durch mehrere Instanzen "das gesamte Konstrukt der IHK aus verfassungsrechtlichen Gründen in Frage". Was bedeutet das?
Storr: Man tritt dieser Institution niemals freiwillig bei. Man erhält keine Gegenleistung. Außerdem sind die IHK völlig undemokratisch aufgebaut. Gerade als Jurist ist man doch schockiert, dass so etwas nicht nur möglich ist, sondern auch seit über 50 Jahren Bestand hat.
Die Zwangsmitgliedschaft ist eine Enklave innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die den Mindestansprüchen an demokratische Legitimation nicht ansatzweise genügt. Das wird gewissermaßen sogar eingeräumt und als legitim verkauft: Laut einer vom Industrie- und Handelskammertag in Auftrag gegebenen Dissertation müssten die Wahlen gar nicht verfassungsgemäß sein, weil die Wahlen der IHK nicht dem im Grundgesetz verankerten Demokratieprinzip unterliegten.
"Ein Gesamtinteresse der Unternehmen gibt es nicht"
LTO: Und diesem Argument folgt das BVerfG – seit immerhin schon 52 Jahren?
Storr: Laut dem BVerfG ist Voraussetzung für die Errichtung eines öffentlich-rechtlichen Verbandes mit Pflichtmitgliedschaft, dass dieser legitime öffentliche Aufgaben erfüllt. Solche nehmen die Kammern nach Ansicht des BVerfG wahr. Der Staat dürfe sich bei der öffentlichen Aufgabe der Wirtschaftsförderung der Hilfe von wirtschaftlichen Selbstverwaltungseinrichtungen bedienen. Vor allem verträten die IHK das "Gesamtinteresse der gewerblichen Wirtschaft".
LTO: Das sehen Sie anders?
Storr: Die Aufgaben, welche die IHK für ihre Zwangsmitglieder wahrnehmen sollen, sind, anders als zum Beispiel bei einer Notarkammer, gar nicht konkret beschrieben. Und ein Gesamtinteresse der völlig inhomogenen Gruppe von Kleinstunternehmern bis hin zu großen Konzernen in völlig unterschiedlichen Branchen gibt es auch nicht. Das einzige gemeinsame Interesse aller Unternehmer dürfte es sein, weniger Steuern zu zahlen.
Das BVerfG hielt das bislang sogar für freiheitssichernd, weil nicht der Staat sich um die Unternehmerinteressen kümmere, sondern eben eine Selbstverwaltungskörperschaft. Wie eine Zwangsmitgliedschaft sich für einen Unternehmer freiheitssichernd auswirken soll, müsste meinen Mandanten mal jemand erklären. Insgesamt war das bisher eine sehr oberflächliche Auseinandersetzung des BVerfG mit dieser Frage.
2/2: "Sonderabgabe und Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz"
LTO: Nun scheint Karlsruhe aber entscheiden zu wollen. Mit welchen Argumenten haben Sie Ihre Verfassungsbeschwerde begründet?
Storr: Ich argumentiere unter anderem damit, dass es sich bei dem IHK-Beitrag letztlich um eine verkappte Sonderabgabe handelt. Für diese gelten bekanntlich strenge Anforderungen – um sie zu wahren, hat man das Gesamtinteresse konstruiert und eine Zwangsmitgliedschaft daraus gebastelt. Von einer guten Arbeit der IHK profitieren aber nicht nur ihre Mitglieder, sondern die gesamte Gesellschaft, selbst diejenigen, die gar nicht erwerbstätig sind. Die Auswirkungen einer gut laufenden Wirtschaft sind eben überall spürbar.
Meines Erachtens verstößt die Erhebung des Mitgliedsbeitrags außerdem gegen den Gleichheitsgrundsatz: Warum sollten ausgerechnet die Unternehmer diese Zwangskorporation zahlen?
Sie können doch eine Boutiqueninhaberin in einem Berliner Hinterhof nicht mit Mercedes Benz vergleichen. Die kleinen Unternehmen bezahlen die Lobbyarbeit für die Großen. Die IHK sind eine Lobbyveranstaltung für die großen Unternehmen.
Schließlich halte ich die Zwangsmitgliedschaft für nicht verhältnismäßig, jedenfalls solange die Unternehmer nicht in demokratische Strukturen eingebettet werden, woran es derzeit mangelt.
"Zuletzt geprüft: 1998"
LTO: Die Argumentation ist nicht neu - warum scheint Karlsruhe nun nach über 50 Jahren wieder entscheiden zu wollen? Was hat sich verändert?
Storr: Ich stütze mich in meiner Argumentation auch auf einen Beschluss des BVerfG aus dem Jahr 2001 (Anm. d. Red: v. 17.12.2001, Az. 1 BvR 1806/98). Dort hat das Gericht klargestellt, dass der Gesetzgeber eine ständige Prüfpflicht habe, ob die Voraussetzungen für eine öffentlich-rechtliche Zwangskorporation noch bestehen.
Denn schließlich können sich, darauf weist das BVerfG selbst hin, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern, zum Beispiel die Struktur der in den Kammern zusammengefassten Unternehmen, aber auch die Entwicklung des Verbandswesens.
Eine solche Prüfung hat der Gesetzgeber seit 1998 nicht mehr durchgeführt. Die Frage, ob die Zwangsmitgliedschaft verhältnismäßig ist, ist also ganz neu aufgeworfen. Dabei ist meines Erachtens schon jetzt ein verfassungswidriger Zustand eingetreten, eben weil der Gesetzgeber seiner Prüfpflicht nicht nachgekommen ist.
"Anwaltskammern – ich hatte nur noch keine Zeit, dagegen vorzugehen"
LTO: Wagen Sie eine Prognose zum Ausgang des Verfahrens?
Storr: Wie gesagt, ich glaube schon, dass es eine Grundsatzentscheidung geben wird. Und ich bezweifele, dass die Kammern in Anbetracht der zunehmenden Homogenisierung der Märkte in Zukunft überhaupt noch eine Perspektive haben werden.
Sowas gibt es in kaum einem anderen Land mehr. In Holland zum Beispiel haben die Kammern noch ganz andere Funktionen, nehmen unter anderem die Aufgaben des Handelsregisters wahr. Und man sieht ja, dass die Wirtschaft dort auch funktioniert - zumindest einigermaßen.
LTO: Wenn wir schon beim Vergleichen sind: Sehen Sie einen Unterschied zum Beispiel zur Anwaltskammer? Dort sind die Advokaten doch auch alle Zwangsmitglieder.
Storr (lacht): Ich hatte bisher nur noch keine Zeit, dagegen vorzugehen. Im Ernst: Ich kämpfe insgesamt gegen Zwangsmitgliedschaften und finde, dass die Unternehmer, vor allem der Mittelstand, in Deutschland völlig ohne Not geradezu stranguliert werden. Für manche von ihnen ist der Zwangsbeitrag gar existenzbedrohend.
Aber die Anwälte sind immerhin eine homogene Gruppe, also eine mit vergleichbaren Interessen. Da kann man jedenfalls noch eher argumentieren, dass es ein wahrzunehmendes Gesamtinteresse gibt. Anders wäre das natürlich, wenn man zum Beispiel pauschal alle Freiberufler über einen Kamm scheren würde.
LTO: Herr Storr, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Dominik Storr ist Rechtsanwalt in Stromberg. Er bezeichnet sich selbst als Bürgerrechtler und setzt sich auch in seiner anwaltlichen Arbeit nach eigenen Angaben ein für einen "demokratischen und sozialen Rechtsstaat".
Das Interview führte Pia Lorenz.
Dominik Storr, Zwangsmitgliedschaft vor dem BVerfG: "Die IHK ist eine Lobbyveranstaltung für die großen Unternehmen" . In: Legal Tribune Online, 04.04.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11564/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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