In Deutschland können sich suizidwillige Schwerkranke zur Unterstützung an Vereine oder einzelne professionelle Suizidhelfer wenden. Der Gesetzgeber will das strafrechtlich verbieten. Eine kritische Betrachtung von Frank Saliger.
Es begann mit der Gründung einer Niederlassung der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas im September 2005: Seitdem versucht der Gesetzgeber, die organisierte Freitodhilfe unter Strafe zu stellen. Auch die Große Koalition hat sich diesem Ziel verschrieben. Mit dem Gesetzentwurf der Bundestagsabgeordneten Thomas Dörflinger und Dr. Patrick Sensburg vom 20. Mai 2015 und dem Gesetzentwurf der Bundestagsabgeordneten Michael Brand und Kerstin Griese und anderen vom Juni 2015 liegen die ersten Gruppenanträge zur Kriminalisierung der organisierten Freitodhilfe vor. Während der Entwurf von Dörflinger/Sensberg bereits jede auch versuchte Teilnahme an einer Selbsttötung unter Strafe stellen will, beschränkt sich der Entwurf von Brand/Griese darauf, die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung zu kriminalisieren. Ausdrücklich ausgenommen werden Angehörige und nahestehende Personen des Suizidwilligen, sofern sie nicht geschäftsmäßig handeln. Mit diesem Inhalt stellt der Entwurf von Brand/Griese eine Kombination von Regelungen aus (gescheiterten) Gesetzentwürfen der Jahre 2006 und 2012 dar.
Die gute und die schlechte Freitodhilfe
Um was geht es bei der Freitodhilfe? Die Freitodhilfe erfasst den Sachverhalt, dass ein in der Regel schwer kranker Suizidwilliger freiverantwortlich Hand an sich legen will und Dritte um Beratung und Unterstützung für eine schmerzfreie und sichere Selbsttötung ersucht. Leisten Dritte diese Unterstützung, so begehen sie Freitodhilfe, die nach geltendem Recht straflos ist. Voraussetzung für die Straflosigkeit des Dritten ist stets, dass die Selbsttötung freiverantwortlich erfolgt. Das ist der Fall, wenn der Suizidwillige sich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und in Kenntnis aller relevanten Umstände für den Freitod entscheidet und diesen eigenhändig vollzieht.
Der Gesetzentwurf von Brand/Griese unterscheidet insoweit zwei Arten von Freitodhilfe, die individuelle und die geschäftsmäßige. Die individuelle Freitodhilfe soll die gute Freitodhilfe sein. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Suizidhilfe in der Regel durch einen Angehörigen oder eine sonst nahestehende Person im Einzelfall erfolgt und durch eine schwierige Konfliktsituation geprägt ist. Dagegen soll die geschäftsmäßige Freitodhilfe schlecht sein. Sie liegt bei einem Helfer vor, der die Freitodhilfe zu einem dauernden und wiederkehrenden Bestandteil seiner Tätigkeit macht, unabhängig von einer Gewinnerzielungsabsicht und unabhängig von einer wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit. Ausdrücklich wendet sich der Gesetzentwurf gegen die Tätigkeit eines Berliner Arztes, der in den vergangenen 20 Jahren über 200 Menschen als Sterbehelfer in den Tod begleitet hat, und gegen den Verein Sterbehilfe Deutschland, der 2013 insgesamt 41 Suizidbegleitungen in Deutschland durchgeführt hat.
Argument der fatalen Gewöhnung der Gesellschaft
Warum ist die geschäftsmäßige Freitodhilfe aber schlecht und soll künftig strafbar sein? Die Entwurfsverfasser sehen durch die Geschäftsmäßigkeit der Freitodhilfe die Selbstbestimmung und das Leben der Suizidwilligen abstrakt gefährdet. Denn bereits die schiere Einbeziehung der von spezifischen Eigeninteressen angetriebenen Suizidhelfer könne die Willensbildung und Entscheidungsfindung der betroffenen Personen beeinflussen. Dieses spezifische, auch nicht finanziell motivierte Eigeninteresse der Suizidhelfer bestehe darin, die eigene Dienstleistung möglichst häufig und effektiv zu erbringen. Die Zulassung einer seriellen Freitodhilfe führe darüber hinaus zu einem fatalen Gewöhnungseffekt der Gesellschaft an solche organisierte Formen des assistierten Suizids. Alte und kranke Menschen könnten sich dadurch zu einem begleiteten Suizid verleiten lassen, den sie ohne die Existenz solcher Angebote nicht begangen hätten. Das Strafrecht müsse daher als ultima ratio verhindern, dass Beihilfe zum Suizid zu einem Dienstleistungsangebot der gesundheitlichen Versorgung degeneriere.
2/2: Unangemessene Kriminalisierung
Überzeugt diese Kriminalisierung? Ich meine nein. Zunächst ist nicht zu sehen, wie die Rechtsgüter "Selbstbestimmung" und "Leben" des Betroffenen durch eine geschäftsmäßige Freitodhilfe auch nur abstrakt gefährdet werden sollen. Wenn die individuelle Freitodhilfe keine Rechtsgüter verletzt, wie die Entwurfsverfasser selbst einräumen, dann bleibt unerfindlich, wie aus der bloßen Absicht der Wiederholung einer straflosen Handlung strafbares Unrecht werden soll. Die Freiverantwortlichkeit eines Selbsttötungsentschlusses jedenfalls wird nicht schon dadurch in Frage gestellt, dass der Suizidwillige sich von seriellen Freitodhelfern unterstützen lässt. Denn für die Befürchtung eines Todes aus "Systemzwang" fehlen jegliche Anhaltspunkte. Im Gegenteil weisen alle Sterbehilfevereine seit Jahren darauf hin, dass die große Mehrzahl der Anfragen gerade nicht zu einem begleiteten Suizid führt, die Kontaktaufnahme mit einem Sterbehilfeverein also mitnichten eine Einbahnstraße in den Tod bedeutet. Auch aus dem bloßen Angebotscharakter organisierter Sterbehilfe ergibt sich kein hinreichender Strafgrund. Zwar erzeugt Angebot Nachfrage. Aber wer schon das bloße Angebot als Strafgrund ausreichen lassen wollte, müsste jegliche Marktwirtschaft mit gesundheitsgefährdenden Gegenständen kriminalisieren.
Neukriminalisierung ist verfassungswidrig
Tatsächlich vermag eine professionelle Freitodhilfe sogar dazu beizutragen, Rechtsgüter besser zu schützen. Denn an die Stelle von unfachlichen Suiziden mit schweren Gesundheitsschäden für den Betroffenen oder Brutalsuiziden mit Gefahren für Dritte eröffnet eine professionelle Freitodhilfe den Weg zu einer schmerzfreien und sicheren Selbsttötung in Selbstbestimmung. Insoweit ist die Neukriminalisierung auch verfassungswidrig. Jeder Bürger hat ein Grundrecht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung, das im allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG wurzelt. Dieses Grund- und Menschenrecht beinhaltet die Freiheit, Zeitpunkt und Art des Todes selbst zu entscheiden. Das schließt vorbereitende Maßnahmen unter Einschluss jeder denkbaren Hilfe Dritter bis hin zur Suizidassistenz ein, das hat schon der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden (Urt. v. 20.01.11; Az: 31322/07). Soweit die geplante Kriminalisierung dem Suizidwilligen den Weg zu einer professionellen und humanen Suizidhilfe versperrt, greift sie unmittelbar und unverhältnismäßig in das Grundrecht des Betroffenen auf autonome Lebensbeendigung ein.
Mehrheit befürwortet sogar aktive Sterbehilfe
Im Übrigen muss sich das Vorhaben der Kriminalisierung der geschäftsmäßigen Freitodhilfe fragen lassen, ob es auf der Höhe der Zeit ist. Die Mehrheit der Deutschen befürwortet seit Jahrzehnten nicht nur die Zulässigkeit der Freitodhilfe, sondern die Straflosigkeit sogar der aktiven Sterbehilfe. So sind 79 Prozent der Bundesbürger für eine Freigabe des ärztlich assistierten Suizids (Infratest dimap, 10/2014), 72 Prozent für die Erlaubnis jeglicher Freitodhilfe und 66 Prozent für eine Freigabe der aktiven Sterbehilfe (Umfrage YouGov, Zeit-Online v. 21.1.2014). Unlängst haben sich über 140 Strafrechtsprofessoren und Privatdozenten gegen eine Ausweitung der Strafbarkeit der Sterbehilfe ausgesprochen (Medstra 3/2015, S. 129). Darüber hinaus ergeben sich Spannungen zur täterschaftlichen Sterbehilfe. Es erscheint widersprüchlich, wenn der Bundesgerichtshof mittlerweile das Tor zu einem straffreien aktiven Behandlungsabbruch geöffnet hat, der Gesetzgeber aber die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe bestrafen will. Schließlich sind Abgrenzungsschwierigkeiten zu zulässigen Formen der Sterbehilfe sowie zur Suizidbeihilfe in Pflegeheimen und Hospizen programmiert. Der Gesetzgeber von 2012 hatte das selbst noch für den Fall gesehen, dass eine Ärztin einer Intensiv- oder Schwerstkrankenstation oder ein Hausarzt ausnahmsweise und wiederholt Sterbehilfe anbieten (BT-Drucks. 17/11126, S. 8). Das zeigt einmal mehr, dass Strafrecht kein taugliches Mittel zur Suizidprävention ist.
Prof. Dr. Frank Saliger ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie an der Eberhard Karls Universität in Tübingen.
Prof. Dr. Frank Saliger, Sterbehilfe: Keine Einbahnstraße in den Tod . In: Legal Tribune Online, 19.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15892/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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