Grundsatzurteil zur Sicherungsverwahrung: Karls­ruhe sucht Kon­sens mit Straßburg

Die lang erwartete Entscheidung des BVerfG hat ein nahezu sensationelles Ergebnis gebracht: Zahlreiche Bestimmungen zur Sicherungsverwahrung wurden für verfassungswidrig erklärt. Auch wenn sich die praktischen Folgen derzeit nur erahnen lassen, ist damit jedenfalls eine intensive Diskussion um die Zukunft des Strafvollzugs vorgezeichnet. Ein Kommentar von Johannes Feest.

Bekanntlich hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Urteil vom 17. Dezember 2009 (Case of M. vs. Germany) gerügt, dass die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung gegen Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK verstößt. In einer weiteren Entscheidung von Anfang 2011 (Urt. v. 13.01.2011, Case of Haidn vs. Germany) hatten die Straßburger Richter auch in der im Jahre 2004 eingeführten nachträglichen Sicherungsverwahrung einen Verstoß gegen Art. 5 der EMRK gesehen

Trotzdem hatten wohl nur wenige erwartet, dass das BVerfG den Gesetzgeber jetzt so umfassend rügen würde: Nach Ansicht der Richter sind sämtliche Vorschriften des Strafgesetzbuches (StGB) und des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung mit dem Grundgesetz (GG) unvereinbar. Der Gesetzgeber muss daher innerhalb von zwei Jahren ein Gesamtkonzept vorzulegen, das den Ansprüchen der Verfassung aus Sicht des BVerfG  entspricht (Urt. v. 04.05.2011, Az. 2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10; 2 BvR 2333/08, 2 BvR 571/10, 2 BvR 1152/10).

Dabei versucht das BVerfG offenbar, den Konflikt mit dem EGMR dadurch zu beheben, dass es die Wertentscheidungen der EMRK in die Sprache des GG übersetzt. Ob das gelungen ist, kann man allerdings bezweifeln. Denn außerhalb Deutschlands ist es schwer zu verstehen, dass das strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK nicht identisch mit dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot des Art. 103 GG sein soll.

Nichtige Normen sollen noch zwei Jahre weiter gelten

Wie schon in ihrer letzten Grundsatzentscheidung zum Thema formuliert, stützen die Verfassungsrichter ihre aktuelle Entscheidung in erster Linie auf das "Abstandsgebot". Danach muss zwischen den Haftbedingungen der Strafgefangenen und denen der Sicherungsverwahrten ein deutlicher Abstand bestehen (Urt. v. 05.02.2004, Az. 2 BvR 2029/01). Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Sicherungsverwahrte keine Strafe verbüßen, sondern ein "Sonderopfer" für die öffentliche Sicherheit erbringen.

Diesen Abstand zur Strafhaft hält das BVerfG bei den Sicherungsverwahrten generell für nicht gewahrt. Das Argument eines entsprechenden Gebots hat daher gar nicht speziell mit der Rückwirkungsfrage zu tun. Vielmehr soll es die spezifisch deutsche Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln legitimieren.

Eigentlich hätte die nun bemängelte Nichteinhaltung des Abstandgebotes die Konsequenz, dass sämtliche Sicherungsverwahrten entlassen werden müssen. Das allerdings halten die Richter für nicht darstellbar, da Gerichte, Verwaltung und Polizei sonst vor kaum lösbare Probleme gestellt würden. Aus diesem Grund sollen die eigentlich für nichtig erklärten Normen bis zum 31. Mai 2013 weiter gelten. Bis dahin muss der Gesetzgeber eine Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung vorlegen, die dem Abstandsgebot  Rechnung trägt.

Aufgrund der Föderalismusreform wird das gar nicht so einfach sein, für die Gesetzgebung im materiellen Strafrecht und im Strafprozeßrecht ist nämlich nach wie vor der Bund zuständig. Lediglich die Kompetenz für den Strafvollzug ist auf die einzelnen Bundesländer übergegangen.

Rückwirkender Freiheitsentzug nur noch bei hochgradiger Gefahr von Schwerstkriminalität

Erst in zweiter Linie bezieht sich das BVerfG auf das rechtstaatliche Vertrauensschutzgebot: Es hält daran fest dass Art. 103 GG nicht für den Maßregelvollzug gilt. Der Gesetzgeber habe hier einen Spielraum und dürfe das Interesse der Verwahrten an einen Freiheitsrechten mit dem Schutz der Grundrechte potentieller Opfer abwägen.

Allerdings habe der unzureichende Abstand des Vollzugs der Sicherungsverwahrung vor dem der Freiheitsstrafe zur Folge, dass sich das Gewicht des Vertrauens der Betroffenen einem absoluten Vertrauensschutz annähert. Nur noch in Ausnahmsfällen könne daher von einem Überwiegen des öffentlichen Sicherheitsinteresses ausgegangen werden.

Ein rückwirkender angeordneter oder verlängerter Freiheitsentzug dürfe nur noch bei einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten angeordnet werden. Das BVerfG versucht hier, dem EGMR entgegenzukommen. Ob das ausreichen wird, müssen künftige Entscheidungen aus Straßburg zeigen.

Die Fälle der vier Beschwerdeführer werden, soweit sie nicht schon entlassen sind, an die Fachgerichte zurückverwiesen. Diese müssen nun anhand der strengeren Maßstäbe des BVerfG entscheiden, ob die Betreffenden ausnahmsweise weiter in Sicherungsverwahrung gehalten werden dürfen. Auch dem Bundesgerichtshof (BGH) hat das BVerfG signalisiert, dass alle übrigen "Altfälle" nach genau diesen Maßstäben behandelt werden müssen und sich damit auf die Seite des dortigen 5. Senats und gegen die Auffassung des 4. Senats gestellt. Die erwartete Entscheidung des Großen Senats des BGH dürfte damit vorgezeichnet sein.

Diskussion um Zukunft des Strafvollzugs hat erst begonnen

Die Entscheidung löst eine Reihe von Problemen, verdeutlicht und verschärft zugleich aber auch einige andere. Vor allem führt das Abstandsgebot zu potentiell unlösbaren Widersprüchen innerhalb des Strafvollzugssystems. Nach den Vorstellungen des BVerfG erfordert das Abstandsgebot mindestens folgende Punkte:

  • Angleichung der Haftbedingungen an die allgemeine Lebensverhältnisse;
  • umfassende, modernen Anforderungen entsprechende Behandlungsuntersuchungen;
  • Beginn und Ende einer etwa erforderlichen Therapie schon während des Strafvollzugs;
  • Aufstellung eines Vollzugsplans;
  • Intensive Förderung durch qualifizierte Fachkräfte;
  • Schaffung einer realistischen Entlassungsperspektive

Diese Forderungen entsprechen Punkt für Punkt dem im Strafvollzugsgesetz angelegten "Behandlungsvollzug". Eigentlich hat daher jeder Strafgefangene und jeder Sicherungsverwahrte schon seit Inkrafttreten dieses Gesetzes 1977 Anspruch auf genau die jetzt vom BVerfG für die Sicherungsverwahrten geforderten Haftbedingungen.

Tatsächlich sind diese Anforderungen im Strafvollzug bisher weitestgehend Theorie geblieben. Es wäre absurd und würde zu einem Aufstand der "normalen" Strafgefangenen führen, sollten die entsprechenden Ansprüche jetzt nur für die Sicherungsverwahrten in die Praxis umgesetzt werden. Im Ergebnis muss der Streit um die rückwirkende und nachträgliche Sicherungsverwahrung daher dazu führen, dass auch über den Strafvollzug wieder gesprochen wird – inklusive der nun wieder vom BVerfG hochgehaltenen Trennung zwischen der Sicherungsverwahrung als Maßregel und der "normalen" Freiheitsstrafe.

Mit dem Urteil haben die Verfassungsrichter in jedem Fall eine wichtige Diskussion angestoßen, welche die Fachwelt in den nächsten Jahren zweifellos verstärkt beschäftigen wird.

Prof. Dr. Johannes Feest leitet das Strafvollzugsarchiv an der Universität Bremen. Er ist Professor i.R. für Strafverfolgung, Strafvollzug und Strafrecht an dieser Universität.

 

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Zitiervorschlag

Johannes Feest, Grundsatzurteil zur Sicherungsverwahrung: Karlsruhe sucht Konsens mit Straßburg . In: Legal Tribune Online, 04.05.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3193/ (abgerufen am: 16.04.2024 )

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