Grenzen der Freizügigkeit: Europarechtliche Vorgaben für die Innenpolitik

2/2: Wiedereinreisesperren stoßen auf praktische Grenzen

Unabhängig von Gründen der öffentlichen Ordnung müssen Unionsbürger ausreisen, wenn sie kein Freizügigkeitsrecht (mehr) besitzen. Das ist besonders für diejenigen relevant, die keine Arbeitnehmer, Selbständige, Studenten oder Arbeitssuchenden sind. Die Grenzen des Aufenthaltsrechts dieser Personengruppe konkretisierte der EuGH in einem Urteil vom 19. September 2013 (Az. C-140/12). Danach muss die Freizügigkeits-Richtlinie so gelesen werden, dass ein Aufenthaltsrecht endet, wenn Sozialleistungen "unangemessen" in Anspruch genommen werden. Was genau das heißt, bleibt allerdings umstritten.

Soweit kein Freizügigkeitsrecht (mehr) besteht, können Unionsbürger unabhängig von Straftaten ausgewiesen werden. Eben diese Ausreisepflicht wird jedoch von den deutschen Behörden selten festgestellt und noch weniger vollstreckt. Auch sind dann meistens keine Wiedereinreisesperren möglich, weil diese nach geltendem deutschen Recht eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung voraussetzen.

Ob das Europarecht weitergehende Wiedereinreisesperren bei unangemessenem Bezug von Sozialleistungen zuließe, ist unklar, weil nicht feststeht, ob ein längerer Inlandsaufenthalt ohne Freizügigkeitsrecht als Missbrauch im Sinn des Art. 35 der Freizügigkeits-Richtlinie einzustufen ist und ob diese vage Norm überhaupt Wiedereinreisesperren gestattet. Darüber wird letztlich der EuGH entscheiden müssen; die Kommission vertrat zuletzt eine eher restriktive Auffassung.

Einreisesperren stoßen allerdings auf ganz praktische Schwierigkeiten. Da die Grenzkontrollen im Schengenraum abgeschafft wurden, kann kein Land systematisch die Wiedereinreise verhindern. Das muss freilich kein Argument gegen solche Verbote sein; man muss sich nur bewusst machen, dass die praktischen Auswirkungen begrenzt wären. Wirksamer dürfte ein Ausschluss von Sozialleistungen sein.

Beschränkung von Sozialleistungen

Arbeitnehmern und Selbständigen sowie deren Familienmitgliedern können Sozialleistungen nicht verwehrt werden. Sie haben in aller Regel ein Recht auf Gleichbehandlung im Steuer- und Sozialrecht. Für Studenten gibt es eine Ausnahme lediglich für das BAföG.

Arbeitssuchende sollten dagegen nach dem Willen des EU-Gesetzgebers von Sozialleistungen ausgeschlossen werden können, Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie. Der EuGH war mit dieser Regelung allerdings nicht ganz einverstanden. Die Luxemburger Richter legten die Ausnahme vertragskonform aus und fordern eine Gleichbehandlung, soweit eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt besteht und die Leistung den Arbeitsmarktzugang fördert (Urt. v. 04.06.2009, Az. C-22/08 u.a.).

Die Umsetzung dieses Urteils bei Hartz-IV-Leistungen ist in Deutschland seit Jahren überaus umstritten und wird nach einer Vorlage des Bundessozialgerichts (BSG) ein zweites Mal die Richter in Luxemburg beschäftigen. Hierbei geht es jedoch nur um Arbeitssuchende im Sinne des EU-Rechts. Für sonstige Unionsbürger, einschließlich derer, die keine begründete Aussicht auf einen Job (mehr) haben, gilt zwar das deutsche SGB II; sie sind jedoch europarechtlich keine Arbeitssuchende.

Für sonstige Unionsbürger sendet das EU-Recht gemischte Signale. Einerseits können die Freizügigkeits-Richtlinie und die Koordinierungs-Verordnung so gelesen werden, dass fast immer gleiche Sozialleistungen gezahlt werden müssen. Andererseits legt der EuGH den Grundsatz der Gleichbehandlung bei Nichterwerbstätigen traditionell so aus, dass ein rechtmäßiger Aufenthalt und eine gewisse gesellschaftliche Integration vorliegt. Speziell in den ersten drei Monaten nach der Einreise soll dies nach der Freizügigkeits-Richtlinie nicht der Fall sein, sodass nach Europarecht kein Anspruch besteht.

Deutsche Sozialleistungen häufig nicht an Freizügigkeit geknüpft

Der deutsche Gesetzgeber koppelt die meisten Sozialleistungen allerdings nicht an die Existenz eines Freizügigkeitsrechts und/oder eine gesellschaftliche Integration der Unionsbürger.

Mit Ausnahme des Betreuungsgeldes müssen nach deutschem Recht zahlreiche Sozialleistungen auch dann gezahlt werden, wenn gar kein Freizügigkeitsrecht besteht und das Europarecht keine Gleichbehandlung fordert. Speziell das Kindergeld wird allen Unionsbürgern gewährt. Für Hartz IV besteht zwar eine Ausnahme für die ersten drei Monate sowie Arbeitssuchende. Allerdings wird dies vom BSG (Urt. v. 30.01.2013, Az. B 4 AS 54/12 R) so ausgelegt, dass nur Arbeitssuchende im Sinn des EU-Rechts erfasst werden.

Wenn nun die Arbeitssuche erfolglos ist, müssen Unionsbürger eigentlich ausreisen. Wenn dies jedoch nicht passiert, soll nach Meinung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen dennoch ein Anspruch auf Hartz IV bestehen (Urt. v. 10.10.2013, Az. L 19 AS 129/13). Auch Sozialhilfe verweigert der deutsche Gesetzgeber einzig bei Arbeitssuche oder einer Einreise zum Zweck des Leistungsbezugs, § 23 SGB XII, und schöpft damit die europarechtlichen Grenzen nicht aus. Kommissarin Reding hat also durchaus Recht, wenn sie in der aktuellen Debatte jüngst auf das großzügige deutsche Recht verwies.

Soweit dies politisch gewünscht ist, könnte innerhalb der EU-Vorgaben also durchaus etwas geändert werden: aufenthaltsrechtlich durch eine konsequente Durchsetzung der Ausreisepflicht und sozialrechtlich durch Konkretisierungen beim Leistungszugang. Ob dies geschieht, muss die Politik entscheiden – und die Debatte hierüber wird uns offenbar noch eine ganze Weile begleiten.

Der Autor Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA).

Zitiervorschlag

Daniel Thym, Grenzen der Freizügigkeit: Europarechtliche Vorgaben für die Innenpolitik . In: Legal Tribune Online, 07.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10569/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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