ESM-Gesetz erst mit Verspätung: "Karlsruhe will keine nur vorläufige Entscheidung treffen"

Interview mit Prof. Dr. Michael Sachs

21.06.2012

Der dauerhafte Euro-Rettungsschirm wird  nicht zum 1. Juli in Kraft treten. Der Bundespräsident wird das ESM-Gesetz nicht frühzeitig genug unterzeichnen, damit das BVerfG mehr Zeit für die Prüfung hat. Michael Sachs erklärt im LTO-Interview, wieso Karlsruhe um etwas bittet, Gaucks Freundlichkeit wenig überraschend ist und welch schwierige Lage die höchsten deutschen Richter damit vermeiden.

LTO: Joachim Gauck wird der Bitte des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nachkommen, wegen der erwarteten Verfassungsklagen das Gesetz zum Euro-Rettungsschirm nicht wie geplant so zeitnah zu unterzeichnen, dass es zum 1. Juli in Kraft treten kann. Das Gericht möchte die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, das am Freitag, den 29. Juni von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden soll, ausführlicher prüfen und benötige dafür mehr Zeit, teilte eine Sprecherin am Donnerstag mit. Herr Professor Sachs, ist das ein übliches Vorgehen? In welchen Fällen hat das BVerfG das schon gemacht?

Sachs: Meines Erachtens ist das kein übliches Vorgehen. Aber das Zustimmungsgesetz zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ist ja auch kein üblicher Fall.

LTO: Verstößt das BVerfG mit dieser "Bitte" nicht gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz?

Sachs: Nein. Schließlich kann sie ja, wenn sie dem Bundespräsidenten oder der gegenzeichnungspflichtigen Bundesregierung nicht legitim erscheint, ignoriert werden.

LTO: Die Bitte hat also keine rechtliche Relevanz?

Sachs: Im Falle der Legitimität der Bitte wäre der Verstoß gegen den Grundsatz des organfreundlichen Verhaltens besonders deutlich, wenn der Bundespräsident sie nicht beachtete.

"Möglicherweise möchte das BVerfG eine vorläufige Entscheidung vermeiden"

LTO: Warum wartet das höchste deutsche Gericht in Anbetracht der angekündigten Verfassungsklagen nicht einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ab? Erst im Mai haben die Karlsruher Richter doch entschieden, dass auch einstweiliger Rechtsschutz gegen ein noch nicht verkündetes Gesetz zulässig sein kann.

Sachs: Im Jahr 1973  hat das Gericht schon einmal den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung, damals gerichtet auf vorläufige Aussetzung von Gegenzeichnung, Ausfertigung und Verkündung eines Vertragsgesetzes, wegen der politischen Risiken abgelehnt. Damals ging es um den Grundlagenvertrag mit der DDR.

Möglicherweise ist sich das BVerfG nicht sicher, wie es mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung umgehen würde und/oder möchte es vermeiden, eine solche Entscheidung treffen zu müssen. Sie wäre nicht nötig, wenn der Bundespräsident auch so die endgültige Entscheidung aus Karlsruhe abwartet.

"Widerspruch zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und verfassungsrechtlichen Bindungen verhindern"

LTO: Ist der Eindruck zutreffend, dass Karlsruhe sich stark in die Politik und die legislativen Kompetenzen einmischt, die eigentlich in Berlin angesiedelt sein sollten? Oder versucht das höchste deutsche Gericht nicht vielmehr, gerade solche Einmischungen obsolet zu machen, indem es nicht den formalen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abwartet, sondern nicht nur im Voraus, sondern vielmehr von Anfang an mit Unterstützung des Bundespräsidenten zu verhindern sucht, dass ein weiteres möglicherweise  verfassungswidriges Gesetz überhaupt in Kraft tritt?

Sachs: Es geht wohl um Folgendes: Bei Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen ist eine Klärung der Verfassungswidrigkeit des Vertragsinhalts geeignet, einen nach Unterzeichnung und Wirksamwerden eines solchen Vertrags drohenden Widerspruch zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und verfassungsrechtlichen Bindungen zu verhindern.

Darum wird ja hier auch von jeher die sonst nicht mögliche präventive Normenkontrolle der Vertragsgesetze zugelassen. Die hier fraglichen Gesetze stehen jedenfalls mit völkerrechtlichen Verträgen in einem so engen Zusammenhang, dass eine Bewertung als Zustimmungsgesetz zu völkerrechtlichen Verträgen zumindest möglich erscheint.

Prof. Dr. Michael Sachs ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches und Europäisches Wissenschaftsrecht an der Universität zu Köln.

Die Fragen stellten Dr. Claudia Kornmeier und Pia Lorenz.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Michael Sachs, ESM-Gesetz erst mit Verspätung: "Karlsruhe will keine nur vorläufige Entscheidung treffen" . In: Legal Tribune Online, 21.06.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6446/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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