Die dreimonatige Wartezeit für ihren Familienangehörigen nachgezogene Unionsbürger im Grundsicherungsrecht ist europarechtskonform, so der EuGH. Dabei löst eine pauschale Frist das eigentliche Problem nicht wirklich, sagt Constanze Janda.
In der Vergangenheit hatten sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) und das Bundessozialgericht (BSG) mit der schwierigen Rechtsfrage auseinanderzusetzen, ob Unionsbürger Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende haben. Den Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) II hat der EuGH vor dem Hintergrund der Unionsbürgerrichtlinie gebilligt und dafür Zustimmung, aber auch viel Kritik geerntet.
In seiner Entscheidung vom Donnerstag musste der Gerichtshof einer vergleichsweise klaren Rechtsfrage nachgehen. Nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II können Ausländer und ihre Familienangehörigen während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik keine Leistungen beanspruchen. Etwas anderes gilt nur, wenn sie Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder aus anderen Gründen – etwa weil sie ihren Lebensunterhalt eigenständig sichern können – freizügigkeitsberechtigt sind. Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung eine nahezu gleichlautende Ermächtigung aus Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG (sogenannte Unionsbürgerrichtlinie) umgesetzt. In der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten gelten ebenfalls Wartefristen für den Zugang zu existenzsichernden Leistungen. Die Intention dahinter ist, eine "Zuwanderung in die Systeme sozialer Sicherheit" zu vermeiden.
Gegen diese Wartefrist hatte der Ehemann einer spanischen Staatsangehörigen geklagt, die in der Bundesrepublik sozialversicherungspflichtig beschäftigt war (Urt. v. 25.02.2016, Az. C-299/14). Er war seiner Frau erst später mit dem gemeinsamen Sohn nachgezogen und hatte für sich und das Kind Grundsicherungsleistungen beantragt, die unter Hinweis auf die eindeutige gesetzliche Regelung versagt wurden. Der EuGH hat die Wartefrist in den Kontext der aufenthaltsrechtlichen Regelungen der Unionsbürgerrichtlinie gestellt. Insofern fügt sich das aktuelle Urteil in seine Rechtsprechungslinie der Urteile Brey (v. 19.9.2013, Az. C-140/12), Dano (v. 11.11.2014, Az. C-333/13) und Alimanovic (v. 15.9.2015, Az. C-67/14) ein.
Nach Art. 6 der Richtlinie haben Unionsbürger das Recht, sich – abgesehen vom Besitz gültiger Ausweispapiere oder eines Reisepasses – ohne weitere Voraussetzungen in anderen Mitgliedstaaten aufzuhalten. Das Recht besteht, solange sie nicht Sozialhilfeleistungen "in unangemessenem Umfang" in Anspruch nehmen, so Art. 14 der Unionsbürgerrichtlinie. Nur wer länger als drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat bleiben möchte, muss ausreichende Mittel zum Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz nachweisen, sofern er nicht Arbeitnehmer oder Selbstständiger ist (Art. 7 Unionsbürgerrichtlinie). Gerade weil die Mitgliedstaaten vorher den Aufenthalt an keinerlei Bedingungen knüpfen dürfen, sei ihnen das Recht zur Leistungsverweigerung eingeräumt.
EuGH: Wartezeiten geeignetes Mittel gegen "Sozialtourismus"
Im Gegensatz zu den Entscheidungen in den Rechtssachen Dano und Alimanovic erweist sich das heutige Urteil als unspektakulär – dass der EuGH Wartefristen billigen wird, galt in Fachkreisen als ausgemacht. Der Gerichtshof hat schon in seiner früheren Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht, dass sich diese zur Vermeidung von "Sozialtourismus" eignen und dem Nachweis dienen, dass der Antragsteller eine "tatsächliche Verbindung" zu dem Staat aufweist, der ihm die Leistung gewähren soll.
Es ist dennoch angebracht, einen genaueren Blick auf die Ausschlussnorm und deren Auswirkungen zu werfen. Dass Ausländer nicht ab dem ersten Tag ihres Aufenthalts Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen können, scheint auf den ersten Blick nachvollziehbar und konsequent, zumal sich der Leistungsausschluss tatsächlich mit den aufenthaltsrechtlichen Wertungen deckt. Klar ist, dass ein Kurzaufenthalt von weniger als drei Monaten noch keinen Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik nach sich zieht – anderenfalls würden Touristen, Durch- oder Geschäftsreisende Mitglieder der inländischen Solidargemeinschaft. Sie alle haben im Falle ihrer Bedürftigkeit die Möglichkeit, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren und dort Sozialhilfeleistungen zu beantragen. Arbeitsuchende haben, sofern sie zuvor in ihrem Herkunftsstaat versichert waren, zudem die Möglichkeit, ihre Leistungen der Arbeitslosenversicherung gemäß Art. 64 VO (EG) 883/2004 für drei bis maximal sechs Monate in einen anderen Mitgliedstaat "mitzunehmen".
Die Wartefrist des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II gilt aber zusätzlich zu den in § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II verankerten Leistungsvoraussetzungen, also auch, wenn der Antragsteller bereits einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik begründet hat. Auch diesen Personen ist zwar die Rückkehr in den Herkunftsstaat möglich. Es ist aber durchaus diskussionswürdig, ob dies eine angemessene Konsequenz ist. Im Fall Garcia-Nieto hätte dies nämlich zur dauerhaften Trennung der Familie geführt, obwohl die Ehefrau im Inland sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Und zwar nur, weil ihr Einkommen zu gering war, um den Lebensunterhalt der gesamten Familie zu decken.
2/2: Familie als Indikator für gewöhnlichen Aufenthalt
Die Dreimonatsfrist erweist sich allenfalls als eingeschränkt tauglich, um den gewöhnlichen vom vorübergehenden Aufenthalt zu unterscheiden. Eine klare Abgrenzung bedarf einer Überprüfung der Bindungen und Bezugspunkte des Antragstellers zu seinem Aufenthalts- wie auch zu seinem Herkunftsstaat, um abschließend und rechtssicher über einen Wechsel der wohlfahrtsstaatlichen Verantwortung und damit der Zuständigkeit für die Existenzsicherung befinden zu können. Der gewöhnliche Aufenthalt ist durch eine zukunftsoffene Verlagerung des Lebensmittelpunkts gekennzeichnet, bei der eine Rückkehr ins Herkunftsland nicht absehbar ist.
Auch wirtschaftlich Inaktive können einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik begründen, etwa wenn sie mit ihren erwerbstätigen Familienangehörigen und den gemeinsamen schulpflichtigen Kindern zusammenleben wollen, so wie es in diesem Fall der Spanier Garcia-Nieto wollte. Es ist in solchen Sachverhalten die Familie, die eine "gewöhnliche Verbindung" zur Solidargemeinschaft des betreffenden Staates begründet. Die starre Frist und das Absehen von einer Einzelfallprüfung lassen die individuellen Umstände im Interesse der Verwaltungsvereinfachung zurücktreten.
Ausgespart hat der EuGH wiederum die Auseinandersetzung mit dem koordinierenden Sozialrecht. Dieses eröffnet Unionsbürgern einen Anspruch auf Inländergleichbehandlung, sobald sie ihren Lebensmittelpunkt in einem Mitgliedstaat begründet haben, so Art. 2 Abs. 1, Art. 4 VO (EG) 883/2004, Art. 11 VO (EG) 987/2009. Wartefristen sind – wenn sie nicht auch für die eigenen Staatsangehörigen gelten – mit diesem Gebot nicht vereinbar.
Verwaltungsvereinfachung kollidiert mit Gerechtigkeitsinteresse
Der Verzicht auf die Einzelfallprüfung mag der Verwaltungsvereinfachung dienlich sein. Der Gerechtigkeit im Einzelfall dient sie aber nicht, denn es wird unterstellt, dass die ersten drei Monate eines Aufenthalts generell nicht mit der Begründung eines neuen Lebensmittelpunkts einhergehen. All jenen, die eine übermäßige Belastung des inländischen Sozialsystems befürchten, hilft die Wartefrist ohnehin nicht viel weiter. Das drängende Problem sind gerade nicht neu Einreisende, wie etwa der betroffene Herr Garcia-Nieto, sondern vielmehr Arbeitnehmer in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Für diese gilt die Wartefrist (und auch der im Fall Alimanovic bewertete Leistungsausschluss für Arbeitsuchende) gerade nicht. Denn selbst wenn die Einkünfte aus der Erwerbstätigkeit bei Weitem nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt zu decken, werden diesem Personenkreis dennoch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende gewährt.
Der gesetzliche Mindestlohn mag das Problem ein wenig entschärft haben. Trotzdem erweist sich die Grundsicherung in vielen Fällen als Mittel zur Aufstockung von Löhnen aus geringfügigen Arbeitsverhältnissen, in denen Arbeitnehmer aus Mitgliedstaaten wie Rumänien und Bulgarien nahezu ausbeuterisch beschäftigt werden.
Letztendlich spart der Leistungsausschluss im SGB II dem Sozialstaat nicht wirklich viel Geld, hat das BSG doch erst im Dezember 2015 festgestellt, dass sich – wenn schon nicht aus dem Europarecht – zumindest aus dem Grundrecht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz ein Anspruch auf Zugang zu den Leistungen der Sozialhilfe ergibt, wenn diese notwendig sind, um den Lebensbedarf zu sichern (Urt. v. 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R).
Die Autorin Prof. Dr. Constanze Janda ist Professorin für Sozialrecht, Europäisches Arbeitsrecht und Zivilrecht an der SRH Hochschule Heidelberg. Sie ist Mitbegründerin des Netzwerks Migrationsrecht und setzt sich seit vielen Jahren mit den Rechtsfragen der sozialen Absicherung von Migranten auseinander.
Prof. Dr. Constanze Janda, EuGH zu deutschen Sozialleistungen für EU-Bürger: Warten auf Hartz IV . In: Legal Tribune Online, 25.02.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18591/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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