Eine Webseite, die auch Videos anbietet, kann ein audiovisueller Mediendienst sein, meint der EuGH. Das könnte zu dichter behördlicher Kontrolle von Webseiten führen. Oder ziemlich kontraproduktiv sein, meint Markus Ruttig.
Schon die lesenswerten Schlussanträge des Generalanwalts vom 1. Juli 2015 ließen die Bedeutung des Falls erahnen: "'Wie ein Pferd aussieht, das weiß ein jeder'. So lautete eine Definition, welche die erste polnische Enzyklopädie aus dem 18. Jahrhundert enthielt." Nach den einleitenden Worten von Maciej Szpunar durfte der Leser gespannt darauf sein, wie der Generalanwalt die audiovisuellen Mediendienste definieren würde. Vor diese nicht gerade leichte Aufgabe hatte den Generalanwalt der österreichische Verwaltungsgerichtshof gestellt.
So entpuppt sich, was auf den ersten Blick wie ein Verfahren anmutet, in dem es vor allem um technische Fragen und Definitionen geht, auf den zweiten schnell als Angelegenheit von grundsätzlicher Bedeutung. Und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in dem aus Österreich stammenden Vorlageverfahren New Media Online GmbH ./. Bundeskommunikationssenat (EuGH, Urt. v. 21.10.2015, Az. C-347/14) ist leider nicht so ausgefallen, wie man nach den Schlussanträgen des Generalanwalts hoffen durfte.
Vielmehr steht zu befürchten, dass die verständliche Intention, die Anbieter von Videosequenzen im Netz denselben Wettbewerbsbedingungen zu unterwerfen wie das lineare Fernsehen, am Ende dazu führen könnte, dass sich an diese Bedingungen gar niemand mehr hält.
Was ist ein audiovisueller Mediendienst?
Die Fa. New Media Online GmbH mit Sitz in Innsbruck betreibt die Online-Zeitung "Tiroler Tageszeitung Online" und betreibt das Portal www.tt.com. Diese Website enthält hauptsächlich Presseartikel. Zur maßgeblichen Zeit, i.e. im Jahre 2012, führte jedoch ein Link mit der Bezeichnung "Video" auf eine Subdomain, auf der anhand eines Suchkatalogs mehr als 300 Videos angesehen werden konnten.
Diese Sequenzen unterschiedlicher Länge (30 Sekunden bis mehrere Minuten) betrafen verschiedene Themen, wie etwa lokale Veranstaltungen und Ereignisse, Befragungen von Passanten zu aktuellen Themen, Sportveranstaltungen, Filmtrailer, Bastelanleitungen für Kinder oder redaktionell ausgewählte Videos von Lesern. Nur wenige Videos hatten einen Bezug zu den Artikeln auf der Website der Zeitung. Ferner wurde ein Teil der Videos von einem regionalen Fernsehsender, Tirol TV, produziert und war auch auf dessen Website zugänglich.
Nach Ansicht der Kommunikationsbehörde Austria stellt die Subdomain "Video" einen audiovisuellen Mediendienst auf Abruf dar, der in Österreich entsprechend den Vorgaben der EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste einer Anzeigepflicht unterliegt.
Nach der Richtlinie ist ein audiovisueller Mediendienst entweder ein Fernsehprogramm oder ein audiovisueller Mediendienst auf Abruf. Sein Hauptzweck besteht in der Bereitstellung von Sendungen zur Information, Unterhaltung oder Bildung der allgemeinen Öffentlichkeit. Die Richtlinie legt auch die Anforderungen fest, welche audiovisuelle Mediendienste u. a. bei kommerzieller Kommunikation, also Werbung, und beim Sponsoring erfüllen müssen.
Es sind ebendiese Anforderungen an die Werbung, welche die Angelegenheit so brisant machen. Sie dürften der Grund dafür gewesen sein, dass die Sache vom österreichischen Verwaltungsgerichtshof schließlich dem EuGH vorgelegt wurde.
EuGH: kurze Videos können unter die Richtlinie fallen
Mit seinem heutigen Urteil scheint der EuGH die Auffassung der österreichischen Medienaufsicht zu teilen, wenn er antwortet, dass der Begriff "Sendung" im Sinne der Richtlinie über audiovisuelle Medien auch die Bereitstellung kurzer Videos auf einer Subdomain der Website einer Zeitung erfasst, wenn diese kurzen Sequenzen aus lokalen Nachrichten, Sport oder Unterhaltung entsprechen.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Dauer der Videos unerheblich ist und sich die Art und Weise, wie die Videos ausgewählt werden, nicht von derjenigen unterscheidet, die im Rahmen der audiovisuellen Mediendienste auf Abruf vorgeschlagen werden.
Die Luxemburger Richter greifen damit kein einziges Argument des Generalanwalts auf, der sogar mit Hilfe eines – sehr anschaulichen - historischen Rückblicks auf die Entwicklung der elektronischen Medien und die Entstehung der Richtlinie versucht hatte, deren Anwendungsbereich zu begrenzen, ohne letztlich aber selbst eine genaue Definition der Begrifflichkeiten zu liefern. Am ehesten sind seine Äußerungen (Rn. 58) wohl so zu verstehen, dass er nur "Formen von Sendungen, die leicht als typische Fernsehsendungen eingestuft werden können" zu denjenigen Inhalten rechnen möchte, die audiovisuelle Mediendienste ausmachen.
2/2: Aufsichtsbehörden als Super-Kontrollinstanz?
Auf die Folgen einer zu extensiven Definition des Begriffs der „audiovisuellen Mediendienste“ hatte Generalanwalt Szpunar in seinen Schlussanträgen selbst hingewiesen, wenn auch nur, um den EuGH zu einer einschränkenden Auslegung zu bewegen.
Hierzu gehört laut Szpunar insbesondere der Umfang der administrativen Kontrolle, die, "eine riesige Herausforderung für die Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten" darstellen würde, weil es so leicht sei, Internetseiten zu erstellen "und beliebige Inhalte, darunter audiovisuelle" einzufügen.
Die Regulierungsbehörden müssten tatsächlich künftig "das Internet" überwachen. Sie müssten es, wie derzeit auch die Inhalte im Fernsehen, ständig monitoren und kontrollieren, Verstöße feststellen, ihre Beseitigung anmahnen und ggf. am Ende Sanktionen aussprechen.
Der Versuch einer allzu weitgehenden Regulierung könnte daher, so der Generalanwalt, dazu führen, dass die Richtlinie ihre Effektivität selbst in dem Bereich verliere, dessen Regelung sie bestimmungsgemäß dient. Darüber hinaus sind audiovisuelle Mediendienste bei der zuständigen Aufsichtsbehörde zu registrieren, woran einige Mitgliedstaaten wie z. B. Großbritannien, weitere Pflichten, etwa zur Entrichtung von Gebühren, knüpften.
Führt der EuGH ein strukturelles Vollzugsdefizit ein?
Den Gerichtshof scheinen diese Folgen nicht zu schrecken. Im Gegenteil betont er, dass die Richtlinie darauf abziele, in einem besonders wettbewerbsstarken Medienumfeld alle Anbieter, die sich an das gleiche Publikum richten, den gleichen Regeln zu unterwerfen. Daher müsse verhindert werden, dass audiovisuelle Mediendienste auf Abruf, wie die fragliche Videosammlung, dem herkömmlichen Fernsehen gegenüber unlauteren Wettbewerb betreiben können. Unterschiede in der technischen Verbreitungsart stören den EuGH dabei nicht.
So sehr das Bestreben der Richter zu begrüßen ist, lineares Fernsehen und Abrufdienste mit audiovisuellen Inhalten denselben Wettbewerbsbedingungen und damit vor allem denselben Werberestriktionen zu unterwerfen, so ernst sind doch auch die Bedenken des Generalanwalts zu nehmen, die Richtlinie könnte damit insgesamt ihrer Effektivität beraubt werden.
Sollten nämlich die Aufsichtsbehörden künftig für Verstöße gegen Werbebestimmungen wie etwa verbotene Schleichwerbung auf diversen youtube-Kanälen zuständig werden, diese jedoch tolerieren, weil sie gar nicht die Ressourcen dazu haben, "das Internet" zu kontrollieren, könnten sich rechtstreue Anbieter audiovisueller Mediendienste oder auch Rundfunkanbieter recht schnell fragen, warum sie sich – freiwillig - an die Bestimmungen der Richtlinie halten.
Diese Argumentation, die nach dem Gleichheitsgrundsatz keineswegs abwegig ist, ist aus dem Steuerrecht bekannt und anerkannt (vgl. BVerfG, Urt. v. 27.6.1991, Az. 2 BvR 1493/89). Im Glücksspielsektor hat die Geltendmachung eines "strukturellen Vollzugsdefizits" erst kürzlich dazu geführt, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Beschluss vom 01.04.2015, Az. 5 L 1453/14) ein Fernseh-Werbeverbot für unanwendbar erklärt hat.
Mit der Entscheidung vom heutigen Tag hat der EuGH den Ball demnach nicht nur weit in die Hälfte der mitgliedstaatlichen Medienaufsichten gespielt, sondern gleichzeitig das Spielfeld ganz erheblich vergrößert.
Der Autor Prof. Dr. Markus Ruttig ist Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz, Partner bei CBH Rechtsanwälte und Lehrbeauftragter für Urheber- und Medienrecht an der Hochschule Fresenius in Köln.
Markus Ruttig, EuGH zu audiovisuellen Mediendiensten: Kontrollieren die Landesmedienanstalten bald das Internet? . In: Legal Tribune Online, 21.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17297/ (abgerufen am: 23.04.2024 )
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