Die herbeigesehnte Grundsatzentscheidung zur Vorratsdatenspeicherung ist endlich da. Im Ergebnis entspricht sie den Schlussanträgen des Generalanwalts: Die Richtlinie verstößt zwar gegen EU-Grundrechte, im Grundsatz ist die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten jedoch möglich. In einem Punkt folgten die Richter allerdings nicht dem Generalanwalt, sondern Karlsruhe, erklärt Sören Rößner.
Was sich bereits im Dezember des vergangenen Jahres nach den Schlussanträgen des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof (EuGH) angedeutet hatte, ist nun Gewissheit: Die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung ist unvereinbar mit der europäischen Grundrechtecharta. Das haben die Luxemburger Richter am Dienstag auf Vorabentscheidungsersuchen des irischen High Court und des österreichischen Verfassungsgerichtshofs entschieden (Urt. v. 08.04.2014, Az. C-293/12, C- 594/12).
Zwar sei die nach der Richtlinie vorgeschriebene Vorratsspeicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und somit letztlich zum Schutz der öffentlichen Sicherheit geeignet. Der Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten sei allerdings so schwer, dass er auf das absolut Notwendige beschränkt werden müsse, was der Gesetzgeber versäumt habe.
In der Sache folgt der EuGH damit im Wesentlichen der Auffassung des Generalanwalts. Dieser hatte die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung für unionsrechtswidrig gehalten, weil sie nicht konkret regele, welche Behörde wann Zugang zu den Daten habe und diese nutzen dürfe. Dass die Richtlinie keinerlei Voraussetzungen und Beschränkungen enthalte sowie keine vorherige Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle vorsehe, wird auch von den Luxemburger Richtern dezidiert moniert.
Zudem erstrecke sich die Richtlinie generell auf sämtliche Personen, elektronische Kommunikationsmittel und Verkehrsdaten, ohne irgendeine Differenzierung, Einschränkung oder Ausnahme vorzusehen. Die Richter kritisieren außerdem, dass die Richtlinie nicht vor Missbrauchsrisiken schütze und nicht vorschreibe, dass die Daten nicht im EU-Ausland gespeichert werden dürfen. Was die Dauer der Vorratsspeicherung betrifft, die nach der Richtlinie zwischen sechs und 24 Monaten liegen soll, rügt der EuGH schließlich, dass nicht unterschieden wird zwischen den betroffenen Personen oder nach Maßgabe des etwaigen Nutzens der Daten für die Kriminalitätsbekämpfung. Der Generalanwalt war der Ansicht, dass die Speicherfrist ein Jahr nicht überschreiten dürfe.
Luxemburg orientiert sich an Karlsruhe
Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Entscheidung im Jahre 2010 eine Vorratsdatenspeicherung nicht schlechthin für verfassungswidrig erklärt hatte, vertritt also auch der EuGH die Auffassung, dass eine solche Maßnahme im Grundsatz mit der Grundrechtecharta vereinbar ist, fordert jedoch Einschränkungen, um die Verhältnismäßigkeit zu wahren – auch insoweit im Gleichlauf mit dem Karlsruher Votum.
Während der Generalanwalt jedoch dafür plädierte, die Richtlinie bis zu einer Nachbesserung durch den Unionsgesetzgeber übergangsweise in Kraft zu lassen, folgen die Luxemburger Richter auch insoweit lieber dem BVerfG, das sich gegen eine übergangsweise weitere Anwendung der nationalen Umsetzungsregelungen entschieden hatte. Und das ist die eigentliche Sensation des Urteils: Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung ist bis zu einer eventuellen substantiell nachgebesserten Neuauflage entfallen.
Neuauflage sollte auch die Kostenerstattung regeln
Weiter ungeklärt ist, ob und unter welchen Voraussetzungen die Verpflichtung der Telekommunikationsunternehmen, die Daten auf Vorrat zu speichern, mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar ist. Denn dies war nicht Gegenstand der Vorlagefragen. Das ist bedauerlich, weil die Richtlinie keine ausdrücklichen Regelungen zu den Kosten der Vorratsdatenspeicherung trifft. Und das obwohl die Notwendigkeit der Richtlinie damit begründet wurde, dass sie die unterschiedlichen nationalen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung harmonisieren sollte, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, die durch hohe Investitionen und Betriebskosten der Vorratsdatenspeicherung für die Diensteanbieter entstehen könnten.
Sollte sich der Unionsgesetzgeber für eine Neuauflage einer Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung entscheiden, wäre er aufgerufen, auch insoweit für klare Vorgaben zu sorgen. Im Moment reichen die nationalen Regelungen nämlich von einer vollen Auferlegung bis hin zu einer weitgehenden Erstattung der Kosten.
2/2: Konsequenzen für Deutschland
Was bedeutet dies nun für die Rechtslage in Deutschland? Zunächst bedeutet es, dass Deutschland nicht mehr gegen seine Umsetzungspflichten verstößt, wie es seit dem Urteil des BVerfG von 2010 der Fall gewesen ist. Dieser flagrante Verstoß gegen Unionsrecht war durchaus geeignet die Erosion des Rechtsbewusstseins innerhalb der Europäischen Union zu befördern. Das allein zuständige Organ hat dies nun beendet.
Was die weitere innenpolitische Diskussion betrifft, ist den Befürwortern einer zügigen Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland ein wesentliches Argument aus der Hand geschlagen worden. Es besteht insoweit keine rechtliche Verpflichtung mehr, die Vorratsdatenspeicherung einzuführen.
Darauf wies auch Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) in seiner ersten Reaktion auf das Urteil zutreffend hin: Es sei eine neue Situation eingetreten und die Grundlage für die Vereinbarung im Koalitionsvertrag entfallen. Es bestehe kein Grund mehr, schnell einen Gesetzentwurf vorzulegen. Das weitere Verfahren und die Konsequenzen sollen nach Ansicht des Ministers ergebnisoffen besprochen werden. Demgegenüber erklärte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), die Bundesregierung halte an einer Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung fest.
Beitrag zur Demokratisierung der EU
Die Ankündigung des Bundesjustizministers, die Entscheidung des EuGH zum Anlass zu nehmen, in eine Grundsatzdebatte über die Vorratsdatenspeicherung einzutreten, erscheint nachvollziehbar und konsequent. Auch wenn der EuGH die Vorratsdatenspeicherung zumindest im Grundsatz für vereinbar mit den europäischen Grundrechten hält, sollten Schaden und Nutzen einer umfassenden anlasslosen Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten auch in Ansehung des NSA-Skandals und des ewigen Grundkonflikts zwischen Freiheit und Sicherheit nochmals grundsätzlich abgewogen werden.
Denn nicht von allem, was technisch möglich ist und rechtlich (gerade noch) zulässig sein mag, sollte auch tatsächlich Gebrauch gemacht werden.
Entscheidend ist letztlich der politische Wille, ob man auf eine derart weitreichende Maßnahme zugunsten einer vermeintlich damit erreichbaren Sicherheit zurückgreifen oder im Interesse der Freiheit lieber darauf verzichten möchte. Wenn es insoweit zu einem offenen Meinungsbildungsprozess innerhalb der Mitgliedstaaten unter Einbeziehung der noch im Entstehen begriffenen europäischen Zivilgesellschaft käme, wäre dies zudem ein Beitrag zur Demokratisierung der Europäischen Union.
Der Autor Sören Rößner, LL.M. ist Rechtsanwalt und Mitgründer der Kanzlei MMR Müller Müller Rößner, Berlin, die unter anderem auf das Telekommunikationsrecht, das Medienrecht und das Urheberrecht spezialisiert ist. Zudem fungiert er als Justiziar des Fachverbandes für Rundfunk- und BreitbandKommunikation (FRK).
Sören Rößner, Sensation bei der Vorratsdatenspeicherung: Der EuGH auf Karlsruher Pfaden . In: Legal Tribune Online, 08.04.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11599/ (abgerufen am: 17.04.2024 )
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