Die Union darf das Freihandelsabkommen mit Singapur nicht ohne die Mitgliedstaaten abschließen. Was dieses nur scheinbar eindeutige Ergebnis der Generalanwältin für TTIP und CETA bedeutet, analysieren Andreas Fischer-Lescano und Johan Horst.
Im Gutachtenverfahren 2/2015 soll der Europäische Gerichtshof (EuGH) klären, ob die Union über die Zuständigkeit verfügt, das geplante Freihandelsabkommenden mit Singapur (EUSFTA) allein zu unterzeichnen und abzuschließen. Am Mittwoch hat Generalanwältin Eleanor Sharpston ihre Schlussanträge vorgelegt. Diese sind zwar für den Gerichtshof nicht verbindlich, geben erfahrungsgemäß aber oft die Entscheidungslinie des Gerichts vor.
Das EUSFTA ist inhaltlich in vielen Punkten mit dem geplanten Abkommen mit den USA (TTIP) und dem bereits ausverhandelten Abkommen mit Kanada (CETA) vergleichbar. Es beinhaltet weitreichende Regelungen in einer Vielzahl von Sektoren und enthält auch die besonders umstrittenen Staat-Investor-Schiedsverfahren. Das Gutachtenverfahren zu EUSFTA ist deshalb von außerordentlich großer Bedeutung für die normative Einhegung der Freihandelspolitik in der Europäischen Union.
Wer sich von den Ausführungen der Generalanwältin aber eine Klärung der vielen offenen Fragen erhoffte, wird enttäuscht. Die Britin schweigt zu vielen zentralen Fragen. Insbesondere beschränkt sie sich entsprechend der Gutachtenfrage der Kommission auf die Erörterung technischer Kompetenzfragen: Zum Verbraucherschutzniveau, dem Umweltschutzniveau und den Fragen der Autonomie des Unionsrechts, die sich im Zusammenhang mit der Investitionsgerichtsbarkeit stellen, sagt die Generalanwältin nichts; hier gibt es auch kein obiter dictum.
Generalanwältin: EUSFTA nicht ohne die Mitgliedstaaten
Lediglich bei den Zuständigkeiten bringt ihre Stellungnahme in einigen Punkten Klarheit. Insbesondere stellt Sharpston heraus, dass das EUSFTA nur von der Union und den Mitgliedstaaten gemeinsam und gerade nicht "EU only" abgeschlossen werden kann (Schlussanträge zum Gutachtenantrag 2/15). Sie widerspricht damit eindeutig dem Wunsch der EU Kommission, künftig Freihandelsabkommen ohne Beteiligung der Mitgliedstaaten (und ihrer Parlamente) abzuschließen.
Die Generalanwältin geht dabei von einer Analyse der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten aus, die entsprechend der Systematik des Unionsrechts zwischen drei Gruppen von Kompetenzen mit jeweils anderem Zustimmungsregime differenziert: den ausschließlichen Kompetenzen der Union, Kompetenzen auf Basis geteilter Zuständigkeit sowie ausschließlichen Kompetenzen der Mitgliedstaaten.
Sie kommt auf dieser Grundlage zu dem Schluss, dass einige im EUSFTA geregelten Sachbereiche tatsächlich, wie von der Kommission behauptet, in die ausschließliche Kompetenz der Union fallen. Dies gelte etwa für den Warenhandel. Für eine Reihe von Sachbereichen sieht die Generalanwältin allerdings nur eine geteilte Kompetenz für die Union. So unterfalle etwa der Bereich der Portfolioinvestitionen oder der Luft- und Seetransporte der geteilten Kompetenz. Schließlich habe die Union mit Blick auf bestimmte Bereiche des EUSFTA überhaupt keine Kompetenz, so für die Kündigung bilateraler Investitionsschutzverträge.
Dies ist insgesamt eine klare Absage an die Kommission, die teilweise ausschließliche Kompetenzen für die Union beanspruchte. Zu Recht folgert insofern beispielsweise Sven Giegold von den Grünen im Europaparlament aus der Stellungnahme der Generalanwältin, dass für den Abschluss der Freihandelsabkommen von EUSFTA bis zu CETA eine deutliche Entschleunigung gefragt ist, um die Dinge gründlich zu diskutieren und zu prüfen, wie den kompetenzrechtlichen Anforderungen genüge getan werden kann.
EU-Kompetenz durch Ratsentscheidung?
Die Ausführungen der Generalanwältin klären zwar im Hinblick auf das Singapur-Abkommen den Status im Sinne eines "gemischten Abkommens". Unklar ist aber, was die Schlussanträge für andere Freihandelsabkommen bedeuten könnten. Dafür bleibt Sharpston in zentralen Punkten zu vage. Dies gilt vor allem für den Bereich der geteilten Kompetenzen. Die Generalanwältin weitet diesen Bereich einerseits bedenklich aus, ohne anderseits deutlich zu machen, was dies im Einzelfall für die Mitwirkungsrechte des Europaparlaments bzw. der Mitgliedstaaten und ihrer Parlamente bedeutet. Dies ist sowohl unionsrechtlich als auch verfassungsrechtlich ein insgesamt fragwürdiges Vorgehen.
So hatte auch die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu diesem Verfahren die Auffassung vertreten, dass der Union für viele Sachbereiche keine alleinige Kompetenz zum Abschluss von EUSFTA zukomme. Denn die Kompetenzen der EU sind nicht nur nach innen, sondern auch nach außen beschränkt und eine Übertragung der Kompetenzkompetenz an die EU ist europaverfassungsrechtlich untersagt.
Gerade dieses Verbot weicht die Generalanwältin durch ihre Auslegung von Art. 216 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bis zur Unkenntlichkeit auf. So erweckt sie den Eindruck, dass eine Kompetenz der Union aus geteilter Zuständigkeit durch eine (politische) Entscheidung des Rates begründet werden könne (so in den Rn. 74ff der Stellungnahme).
2/2: Ausweitung der Kompetenzzone
Das wäre aber evident rechtswidrig: Die Zuordnung der Kompetenzen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten kann nicht von einer (noch dazu regelmäßig im Mehrheitsmodus getroffenen) Entscheidung des Rates abhängen. Dies ergibt sich schon aus dem grundlegenden Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Kompetenzen der Union bestehen demnach nur, soweit sie von den Mitgliedstaaten übertragen wurden.
Die Übertragung von Kompetenzen auf die Union richtet sich in Deutschland nach Art. 23 des Grundgesetzes. Die Begründung neuer Kompetenzen der EU durch einen Beschluss des Rates wäre hiernach gar nicht zulässig. Für die vergleichbare Ausweitung der Binnenkompetenz über Art. 352 AEUV, die die Generalanwältin für ihre weite Auslegung mit heranzieht (Rn. 368), sieht § 8 Integrationsverantwortungsgesetz (IntVG) eine einfachgesetzliche Ermächtigung vor der Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat vor. Über den Abschluss von Freihandelsabkommen würde dieses fein ziselierte System schlichtweg ausgehebelt, wenn sich die Generalanwältin mit ihrer Auffassung durchsetzen würde.
Nach Ansicht der Generalanwältin soll der Beschluss der Mitgliedsstaaten im Rat die Aufteilung der Kompetenzen im Bereich der geteilten Zuständigkeiten ordnen können. Sharpston empfiehlt, dass den Ratifizierungsbeschlüssen im Rat eine Kompetenzerklärung beigefügt werden soll, in der der Rat präzise die Bereiche benennen soll, die durch die EU einerseits und die Mitgliedstaaten andererseits durchgeführt werden (Rn. 76).
Da es weder bei EUSFTA noch bei CETA eine solche Liste von Kompetenzen gibt, ist die Stellungnahme der Generalanwältin nicht nur wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung bedenklich, sondern auch deshalb, weil weder für die Verträge mit Singapur und Kanada noch für andere Freihandelsabkommen klar ist, welche Bereiche nun tatsächlich der Unionskompetenz und welche Mitgliedsstaatskompetenz unterfallen sollen. Es ist schon erstaunlich, dass bislang kein Akteur im europäischen Verfassungsverbund auch nur den Versuch unternommen hat, einmal verbindliche Schneisen ins Kompetenzdickicht einzuziehen. Der schwarze Peter für diese Aufgabe wird immer wieder weitergereicht. Prokrastination als Programm.
Politische Entscheidung statt demokratischer Rückbindung: nicht mit dem BVerfG
Die Generalanwältin beantwortet die relevanten Fragen jedenfalls nicht, sondern gibt sie zur politischen Entscheidung im Rat frei, ohne sich für die demokratische Rückbindung der Entscheidung zu interessieren. Auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), das der Bundesregierung aufgegeben hatte, sicherzustellen, dass die vorläufige Anwendung von CETA nur solche Sachbereiche betreffe, die im Kompetenzbereich der Union liegen, verweist bis zur Klärung dieser Frage ad nihilo. Denn die Beschlusslage zu CETA besagt zwar, dass das ein gemischtes Abkommen ist; welche Teile aus der geteilten Zuständigkeit aber in die Unionskompetenz fallen (und damit vorläufig anwendbar wären) und welche bei den Mitgliedstaaten verbleiben, das klären die CETA-Beschlüsse des Rates derzeit nicht.
Die Schlussanträge der Generalanwältin, die den Zuständigkeitsstreit klären sollten, führen also wieder zum Anfang zurück: Die entscheidenden Fragen bleiben offen. Es ist zu hoffen, dass der Gerichtshof in seinem Gutachten, anders als die Generalanwältin, klare Kriterien für die Abgrenzung der Kompetenzen von Mitgliedstaaten und Union im Bereich geteilter Zuständigkeit benennen wird.
Der EuGH wird dabei beachten müssen, dass das BVerfG in Fragen der Kompetenzabgrenzung zwischen Union und Mitgliedstaaten durchaus mitredet. Zu erwarten ist, dass Karlsruhe eine uferlose Ausweitung der Kompetenzen der Union aus geteilter Zuständigkeit nicht akzeptieren wird. Auch eine Konstruktion, die die Kompetenzabgrenzung von einer Entscheidung des Rates abhängig macht und die Notwendigkeit demokratischer Kontrolle negiert, dürfte wenig Aussicht haben, die ultra-vires-Kontrolle zu passieren. Nur eine klare und vorhersehbare Abgrenzung der Kompetenzen, die auch der Rolle des Bundestages gerecht wird, dürfte vom BVerfG akzeptiert werden.
Angesichts dieser nunmehr offenkundigen und nicht mehr zu leugnenden europa- und verfassungsrechtlichen Unklarheiten erscheint es fast zwingend, dass die vorläufige Anwendung von CETA erst nach Klärung dieser Fragen durch den EuGH und das BVerfG erfolgt. Das wäre jedenfalls ein Beitrag zur Deeskalation in einem rechtspolitisch strittigen Politikfeld, der der Sache und der demokratischen Legitimation europäischer Politik insgesamt gut zu Gesicht stünde.
Der Autor Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, LL.M., lehrt Öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Universität Bremen. Er ist im Verfahren über das vergleichbare Freihandelsabkommen CETA vor dem Bundesverfassungsgericht Bevollmächtigter eines Teils der Beschwerdeführer. Hier gibt er seine persönliche Meinung wieder.
Der Autor Johan Horst, LL.M., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für europäische Rechtspolitik der Universität Bremen.
Generalanwältin zum Freihandelsabkommen mit Singapur: Vorhang auf und alle Fragen offen . In: Legal Tribune Online, 21.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21549/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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