EuGH zur Verschwiegenheitspflicht der Finanzaufsichtsbehörden: Kein Deck­mantel für die Geheim­hal­tung von Fehl­ver­halten

Gastbeitrag von Prof. Dr. Elke Gurlit

13.09.2018

Die strikte Geheimhaltungspflicht muss abgewogen werden mit legitimen Informationsinteressen von geschädigten Anlegern und anderen Betroffenen, so der EuGH in zwei Urteilen. Der gerichtliche Ansatz überzeugt, meint Elke Gurlit.

Die Finanzmärkte sind auf Vertrauen angewiesen. Banken und andere Akteure sollen sich darauf verlassen können, dass die von ihnen an die Aufsichtsbehörden übermittelten Informationen auch vertraulich bleiben. Eine behördliche Offenbarung etwa über die Schieflage eines Unternehmens oder über Fehlverhalten eines Geschäftsleiters könnte nicht zuletzt auch zur einer Gefahr für die Finanzstabilität führen. Deshalb sehen die Bankenrichtlinie (CRD IV) und die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) vor, dass die Behörden das "Berufsgeheimnis" wahren müssen. Nur ausnahmsweise dürfen vom Berufsgeheimnis geschützte Informationen weitergereicht werden.

Gerade die Reichweite der Ausnahmen vom Geheimnisschutz ist aber umstritten. So können geschädigte Anleger ein legitimes Interesse an behördlich verfügbaren Dokumenten haben, um Schadensersatzansprüche gegen Finanzunternehmen oder Aufsichtsbehörden zu prüfen. Dies gilt gleichermaßen für Personen, die sich gegen belastende Maßnahmen der Aufsichtsbehörden wehren wollen.

In den Urteilen "Buccioni" (Urt. v. 13.09.2018, Az. C-594/16) und "UBS Europe" (Urt. v. 13.09.2018, Az. C-358/16) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf Vorlage mitgliedstaatlicher Gerichte zu zwei Konfliktfeldern Stellung genommen und jeweils für Abwägungslösungen plädiert.

Ein wenig pre-trial discovery auch für den deutschen Anlegerschutz

In der Rechtssache "Buccioni" hatte der Kläger des Ausgangsverfahrens durch die Insolvenz einer Bank hohe Verluste erlitten, für die er nur teilweise vom italienischen Einlagensicherungssystem entschädigt wurde. Gestützt auf das nationale Informationsfreiheitsgesetz begehrte Herr Buccioni von der Bankenaufsichtsbehörde Banca d’Italia die Überlassung von Dokumenten – mit dem Ziel, einen Amtshaftungsanspruch gegen die Behörde wegen Aufsichtsversagens zu prüfen.

Die Banca d’Italia verweigerte den Informationszugang unter Berufung auf Art. 53 Abs. 1 CRD IV. Nach dieser Vorschrift können vom Berufsgeheimnis geschützte Informationen bei einem Insolvenzverfahren nur "in zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren weitergegeben werden". Die Behörde meinte, die Ausnahme vom Geheimnisschutz sei nicht einschlägig, wenn ein gerichtliches Verfahren noch gar nicht anhängig sei, sondern der Informationsbegehrende mittels der angeforderten Informationen erst prüfen wolle, ob er Klage erhebt.

Der EuGH teilt diese Auffassung nicht und folgt den überzeugenden Ausführungen des Generalanwalts. Das Gericht betont zwar zunächst die Auslegungsdirektive, dass Ausnahmen von Grundsatz des Geheimnisschutzes eng auszulegen sind. In der Sache könne aber von dem Grundsatz abgewichen werden, wenn der Informationsbegehrende plausibel darlegen kann, dass die verlangten Informationen für ein laufendes oder erst noch einzuleitendes zivil- oder handelsrechtliches Verfahren von Bedeutung sind. Hier hätten die Behörden im Einzelfall eine Abwägungsentscheidung zu treffen.

Die Entscheidung ist von erheblicher Relevanz für den deutschen Anleger- und Einlegerschutz. Das deutsche Prozessrecht kennt nicht das aus dem US-amerikanischen Recht bekannte Instrument der pre-trial discovery, das Informationsansprüche auch gegenüber dem Klagegegner ermöglicht. Nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) besteht aber ein Informationsanspruch gegenüber der Bundesanstalt für Finanzmarktaufsicht (BaFin). Dieser wurde zwar nicht geschaffen, um Informationen über künftige Klagegegner zu erlangen. Er kann aber, wie aus dem EuGH-Urteil folgt, bei Bedarf dazu genutzt werden – unabhängig davon, ob sich die potenzielle Klage gegen ein Finanzunternehmen oder gegen die Behörde selbst richtet.

Waffengleichheit von Finanzmarktakteuren und ihren Aufsehern

In der Rechtssache "UBS Europe" hatte die luxemburgische Finanzmarktaufsichtsbehörde CSSF entschieden, dass eine Person, die bei einer Investmentgesellschaft eine Führungsposition innehatte, wegen ihrer Beteiligung an dem Madoff-Skandal nicht mehr die erforderliche Zuverlässigkeit besitze, und deshalb ihren Rücktritt aus der Leitungsfunktion verlangt. Der Kläger des Ausgangsverfahrens wehrte sich gegen das Abberufungsverlangen und begehrte von der CSSF den Zugang zu Informationen, die sich auf andere Personen und deren Rolle in dem Skandalfall bezogen.

Die CSSF lehnte das Informationsgesuch unter Verweis auf Art. 54 Abs. 1 MiFID I ab. Diese Vorschrift verpflichtet die nationalen Aufsichtsbehörden ebenso wie Art. 53 CRD IV zur Wahrung des Berufsgeheimnisses. Der EuGH hatte zu entscheiden, ob die begehrten Dokumente unter die Ausnahme vom Geheimnisschutz für "Fälle, die unter das Strafrecht fallen" gefasst werden könnten.  Anderenfalls stellte sich die Frage, ob der Zugang zu Informationen verweigert werden kann, die der Adressat einer Aufsichtsmaßnahme zur Geltendmachung seiner rechtlichen Interessen benötigt.

Der EuGH folgt bei der ersten Frage zu Recht dem Vorschlag der Generalanwältin, die für ein verfahrensbezogenes Verständnis des Begriffs "Strafrecht" plädiert hatte. Danach wird die behördliche Geheimhaltungsverpflichtung nur durchbrochen, wenn die fraglichen Dokumente zum Zweck der strafrechtlichen Verfolgung an ein Gericht weitergegeben werden sollen oder die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen betreffen. Verwaltungsrechtliche Entscheidungen, die wie im vorliegenden Fall auf ein Betätigungsverbot hinauslaufen, mögen zwar eine harsche Sanktion sein, fallen aber nicht unter die Ausnahme für das Strafrecht.

Der Gerichtshof musste sich deshalb der prinzipiellen Frage stellen, wie er es mit den Verteidigungsrechten des Betroffenen hält, die in Art. 47 Abs. 2 der Grundrechte-Charta der EU (GRCh) anerkannt sind. Der EuGH plädiert auch hier für eine Abwägungslösung: Zwar müsse die Behörde in die Ermittlungsakte auch entlastende Informationen aufnehmen. Schon Art. 47 Abs. 2 GRCh gewähre aber kein unbeschränktes Informationsrecht des Adressaten einer belastenden Maßnahme. Sofern er Zugang zu Informationen begehre, die Berufs- und Geschäftsgeheimnisse Dritter umfassten, müssten die Behörden und Gerichte die gegenüberstehenden Interessen abwägen.

Die Abwägungslösung hinterlässt ein schales Gefühl. Denn es will nicht einleuchten, dass eine Klage gegen eine Aufsichtsmaßnahme scheitern sollte, weil der Kläger keinen Zugang zu behördlichen Dokumenten erhalten hat, die seine Rechtsposition stützen. Die Lösung liegt hier freilich nicht in den Regeln über die behördliche Weitergabe von Informationen, sondern im Prozessrecht. Im deutschen Verwaltungsprozess kommt vor allem dem sog. "in camera-Verfahren" erhebliche Bedeutung zu. Es ermöglicht eine Einsichtnahme der streitbefangenen Dokumente durch das Gericht unter Ausschluss der Verfahrensbeteiligten.

Der EuGH auf dem Weg der Konsolidierung

Mit den Entscheidungen "Buccioni" und "UBS Europe" liegen zwei weitere Bausteine zur Lösung eines besonders streitträchtigen Konflikts vor. Die erste Baustelle betrifft den Begriff des Berufsgeheimnisses, der nicht Gegenstand dieser Entscheidungen war. Der EuGH hat jüngst in der Rechtssache "Baumeister" (Urt. v. 19.06.2018, Az. C-15/16) klargestellt, dass nicht alle Dokumente in der Verfügungsgewalt der Aufsichtsbehörden auch dem Berufsgeheimnis unterfallen. Vielmehr sind nur solche Informationen schützenswert, deren Offenbarung die Gefahr einer nachteiligen Interessenberührung der Informationslieferanten heraufbeschwört.

Mit den Urteilen "Buccioni" und "UBS Europe" steht nun fest, dass auch das solchermaßen begrenzte Berufsgeheimnis einer Durchbrechung zugunsten überwiegender Informationsinteressen zugänglich ist. Die Finanzmarktaufsicht ist zwar in besonderer Weise auf Vertrauen angewiesen – das darf aber kein Deckmantel sein für die Geheimhaltung von Behördenversagen oder von Fehlverhalten Dritter.

Die Autorin Prof. Dr. Elke Gurlit lehrt Öffentliches Recht, Rechtsvergleichung und Europarecht an der Universität Mainz. Ihre Forschungsinteressen liegen u.a. im Finanzmarktaufsichtsrecht.

Zitiervorschlag

EuGH zur Verschwiegenheitspflicht der Finanzaufsichtsbehörden: Kein Deckmantel für die Geheimhaltung von Fehlverhalten . In: Legal Tribune Online, 13.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30925/ (abgerufen am: 19.03.2024 )

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