Die Europäische Kommission hat ein Diskussionspapier zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorgestellt. Stephan Koloßa zum jetzigen Stand der Dinge und den Optionen, eher lose, moderat oder besonders eng zusammenzuarbeiten.
Die Kommission der Europäischen Union stellte jüngst ein Reflexionspapier über die Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) vor. Die Vorschläge sind Teil einer umfassenden Strategie zur Neuausrichtung der EU. Im März 2017 anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge erklärten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, dass die Union "bereit ist, mehr Verantwortung zu übernehmen und dazu beizutragen, eine stärker wettbewerbsfähige und integrierte Verteidigungsindustrie zu schaffen".
So stellte die Kommission nun drei Optionen vor, wie die Mitgliedstaaten künftig zur GSVP beitragen sollen. Die Szenarien sind dabei abgestuft nach der Reichweite der Kompetenzen, die sie der EU abträten. Das erklärte Idealziel: eine umfassende gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsunion mit europäischer Armee, einem eigenen Verteidigungsfonds und echtem Binnenmarkt für Verteidigungsgüter.
Der Wunsch nach einem selbstständigen europäischen Militärbündnis neben dem transatlantischen Bündnis der North Atlantic Treaty Organization (NATO) ist nicht neu. Bereits in den frühen fünfziger Jahren, also unmittelbar nach Gründung der NATO, gab es vor allem in Deutschland und Frankreich das Bestreben, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu errichten, die über eine eigene Armee verfügen sollte. Der Vertrag scheiterte letztlich an der fehlenden Zustimmung des französischen Parlaments im Jahre 1954.
Ein eher unbekanntes Bündnis vorab
Stattdessen konnten sich einige europäische Staaten auf ein "kleines Bündnis" einigen: So wurde ebenfalls im Jahre 1954 der Bündnispakt der Westeuropäischen Union (WEU) gegründet, die nicht über eine Gemeinschaftsarmee verfügte, sondern sich in einem Versprechen der Mitgliedsstaaten zu gegenseitiger militärischer Unterstützung erschöpfte. Wirkliche Bedeutung erlangte die WEU jedoch vor allem als politisches Druckmittel bei dem Versuch, ein Gegengewicht vor allem zur Supermacht USA herzustellen.
Die Gründung der WEU sollte maßgeblich zum Beitritt Deutschlands zur NATO im Jahre 1955 beitragen. Sodann blieb sie für Jahrzehnte tatenlos. Erst in den achtziger Jahren wurde dieses Politikfeld erneut verstärkt in den Fokus gerückt, um es schließlich zu einem Teil europäischer Integration zu machen. Ausgehend von den sogenannten Petersberg-Aufgaben im Jahre 1992 sollte die WEU der militärpolitische Akteur der späteren Europäischen Union werden.
Zu den Hauptaufgaben zählten humanitäre Maßnahmen und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Maßnahmen und Kampfeinsätze bei der Bewältigung von Krisen und Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens. Inzwischen wurde die WEU aufgelöst und die Europäische Union hat den Bereich der GSVP vollständig übernommen. Geregelt in den Artikeln 42 bis 46 des Vertrags über die Europäische Union (EU-Vertrag) ist dieser Bereich integraler Bestandteil der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und sichert der Union auf zivile und militärische Mittel gestützte Handlungsoptionen.
Die komplizierte Verteidigung Europas
Dass dem Bereich der GSVP auch nach Abschluss des Lissabon-Vertrags ein besonderer Charakter zukommt, erkennt man nicht zuletzt daran, dass Entscheidungen zur GSVP weitestgehend einstimmig von den Mitgliedstaaten getroffen werden müssen. Anders als für andere Maßnahmen ist eine Mehrheit, sei sie auch qualifiziert, grundsätzlich nicht ausreichend. Konstruktive Enthaltungen sind hingegen möglich.
Diese Regelungen sind nicht nur Ausdruck innerstaatlicher Sensibilität des Sicherheits- und Verteidigungssektors, sondern auch Ausdruck der Zurückhaltung bei Interventionen in Drittstaaten. Des Weiteren ist streng zwischen der gemeinsamen Verteidigungspolitik einerseits und der gemeinsamen Verteidigung selbst zu unterscheiden. Für die Errichtung einer gemeinsamen Verteidigungsunion bedarf es der einstimmigen Entscheidung des Europäischen Rates, das heißt der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten. Dabei handelt es sich um ein erleichtertes Vertragsänderungsverfahren, bei dem es entgegen den allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen keiner Änderung des EU-Vertrags selbst bedarf.
Die von der Kommission vorgestellten Szenarien sollen nun zur Diskussion beitragen und den politischen Diskurs fördern, sodass am Ende – jedenfalls nach Wunsch der Kommission – eine Verteidigungsunion entsteht.
2/2: Lose Zusammenarbeit und einfacherer Informationsaustausch
Im ersten Szenario würden die Mitgliedstaaten allein auf freiwilliger Basis zusammenarbeiten. Es gäbe keine unionsweiten, unmittelbaren Kompetenzen. Sollte sich eine Bedrohung konkret abzeichnen, könnten die Mitgliedsstaaten Ad-hoc-Beschlüsse fassen und so auf die jeweilige Situation reagieren. Die EU-Staaten wären maßgeblich an keine gemeinsame Marschrichtung gebunden, sondern könnten jeweils situativ und individuell entscheiden; sie behielten weitgehend ihre Kompetenzen.
Auf europäischer Ebene könnten jedoch speziell Informationen leichter ausgetauscht und koordiniert werden. Es würde auch ein europäischer Verteidigungsfonds zusammen mit einem Verteidigungsforschungsprogramm errichtet. Durch den Fonds sollen gezielt gemeinsame Kompetenzen und Technologien entwickelt werden, beispielsweise im Bereich von militärischen Drohnen oder einer europäischen Satellitenüberwachung.
Das zweite Szenario geht einen Schritt weiter und geht von einer geteilten Verantwortung aus. Die Europäische Union bekäme mehr Kapazitäten, um militärische Geschlossenheit und Stärke vermitteln zu können. Sie soll verstärkt mit der NATO kooperieren, aber auch eigenständig Krisenbewältigungs- sowie Kapazitätsaufbaumaßnahmen übernehmen können. Dies gälte besonders für die Bereiche der maritimen Sicherheit, des Terrorismus, der Cyberbedrohungen, des Grenzschutzes und der Energieversorgungssicherheit. Dopplungen von Abwehrmaßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten sollen so verhindert werden. Ebenfalls soll der bereits genannte Verteidigungsfonds entstehen.
Eine europäische Armee als Ziel
Schließlich nennt das Papier der Kommission als drittes Szenario eine gemeinsame Verteidigung und Sicherheit auf europäischer Ebene. Dieser Vorschlag ginge mit einer weitgehenden Kompetenzverlagerung auf die Europäische Union einher und es entstünde eine Sicherheits- und Verteidigungsunion. Militärisches Personal würde vorausstationiert und stünde permanent zur Verfügung der Europäischen Union.
Vor allem bei den zuletzt genannten Szenarien stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zur NATO. Nach den derzeit geltenden Regelungen des EU-Vertrags herrscht ein kooperatives Miteinander. Auch werden in den Abschlusskommuniqués des Nordatlantikrates in stetiger Regelmäßigkeit die gemeinsamen strategischen Interessen zwischen der NATO und der Europäischen Union herausgestellt. Dies verwundert auch nicht, herrscht doch weitgehend Personalunion in den entsprechenden Gremien. Auf der Grundlage, dass keine der beiden Organisationen über eine eigene Armee verfügt, wurde für die Verteilung der Kapazitäten im Wege der sogenannten Berlin-plus-Vereinbarungen eine einvernehmliche Kompromisslösung gefunden.
In der Theorie mag das funktionieren, doch die transatlantischen Beziehungen verlaufen in der Praxis nicht immer harmonisch. So herrschte bereits im Nachgang der NATO-Ratsbeschlüsse zu den Berlin-plus-Vereinbarungen Streit über die Reichweite der Regelungen und insbesondere über das Recht des ersten Zugriffs. Seit den Vereinbarungen von 2003 hat sich der Grundsatz durchgesetzt, dass das Erstzugriffsrecht bei der NATO liegt. Gleichwohl wurden die Vereinbarungen nicht durchweg beachtet, was sich beispielsweise bei den Einsätzen in Bosnien-Herzegowina in 2002 und den Einsätzen im Kongo in 2003 und 2006 zeigte. Die Errichtung einer Verteidigungsunion würde international daher sicher nicht ohne politische Gegenwehr bleiben.
Die EU hätte erstmal mit sich selbst zu kämpfen
Das Szenario einer europäischen Verteidigungsunion ist jedoch bereits auf europäischer Seite ein ausgesprochen ambitioniertes Unterfangen. Es stimmt, dass es eine wachsende Zahl an Bedrohungen für unsere Gesellschaft gibt. Globale und regionale Akteure rüsten auf, terroristische Anschläge sind an der Tagesordnung und die Zahl der Cyberangriffe steigt. Eine Bündelung von Wissen und Kompetenzen auf europäischer Ebene ermöglicht eine effektive und effiziente Verteidigung. Die Europäische Union würde über ein breites Spektrum an Handlungsmöglichkeiten verfügen mit jeweils großem Potential.
Tatsächlich würde eine gemeinsame Verteidigung gegenwärtig jedoch wohl an der nötigen Einstimmigkeit scheitern, da die Unentschlossenheit auf Seiten der Mitgliedstaaten recht groß ist. Der Bereich der GSVP steht weiterhin im entscheidenden Spannungsfeld zwischen Integration und Wahrung nationaler Souveränität.
Andererseits wird eine Notwendigkeit zur Eigenständigkeit Europas etwa im Hinblick auf die USA und die NATO nicht zuletzt von Bundeskanzlerin Merkel zunehmend deutlich artikuliert. Insoweit erinnert die Situation ein Stück weit an die Geschichte der WEU: Sich helfen? Ja. Sich binden? Eher nicht.
Der Autor Stephan Koloßa ist Wiss. Mit. am Institut für Friedenssicherungs- und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum sowie Mitglied des Fortschrittskollegs "SecHuman". Er beschäftigt sich vorwiegend mit dem Völker- und Europarecht. Seine Promotion verfasst er zum Recht auf Privatheit im digitalen Zeitalter.
Stephan Koloßa, Neue Sicherheitspläne der EU: Wie wollen wir uns verteidigen? . In: Legal Tribune Online, 26.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23279/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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