Erdogan und die Justiz: "Vielen Türken spricht Böh­m­er­mann aus der Seele"

von Pia Lorenz

12.04.2016

Deutschland fragt sich, warum der türkische Präsident Jan Böhmermanns Strafverfolgung verlangt. Für Gül Pinar ist das kein Wunder, die türkischen Instanzgerichte täten längst, was Erdogan will. Er habe ein System der Angst etabliert.

LTO: In der Türkei gab es nach Informationen des Handelsblatts 1.845 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung – allein in den ersten 1,5 Jahren der Präsidentschaft von Recep Tayyip  Erdogan. Können Sie uns diese Empfindlichkeit eines Mannes erklären, der so viel Macht hat wie der türkische Präsident?

Pinar: Das ist nicht nur Überempfindlichkeit, sondern extrem ausgeprägtes Machtgehabe.  Vorab muss man wissen, dass es etwas wie Satire im orientalischen Selbstverständnis so nicht gibt.

Gül Pinar

Zudem hat Erdogan zwar viel Macht, aber er wird von mindestens 50 Prozent der türkischen Bevölkerung nicht anerkannt. Vermutlich deshalb hat er oft das Gefühl, sich in der öffentlichen Wahrnehmung behaupten zu müssen. Wenn wir dazu das türkische Wahlrecht berücksichtigen, wonach eine Partei die 10-Prozent- Hürde überwinden muss, dann wurde er von faktisch nur 30 Prozent gewählt. Die Macht ist also nur groß, wenn sie großgeredet und mit entsprechender Angstmache aufrechterhalten wird.

Deswegen setzt er Angst und Schrecken ein.  Wer etwas gegen ihn sagt, muss damit rechnen, im Gefängnis zu landen. Er lässt selbst Minderjährige wegen Beleidigung seiner Person in sozialen Netzwerken festnehmen.  Ähnlich verhält er sich derzeit auch Deutschland gegenüber, weil er weiß, dass man ihn hier im Moment braucht. Aber das ist ein hausgemachtes Problem der Bundesregierung.

Gegenseitigkeit: Präsidentenbeleidigung durch Ausländer auch in der Türkei strafbar

LTO: § 103 StGB, die Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten, ist in Deutschland völlig unbekannt. Die Norm wird fast nie angewendet, sie setzt aber voraus, dass der Staat, dessen Oberhaupt von einem Deutschen beleidigt wurde, ähnliche Schutzvorschriften für das deutsche Staatsoberhaupt hat. Gibt es eine entsprechende Vorschrift im türkischen Strafrecht, welche ausländische Staatsoberhäupter vor einer Beleidigung schützt? 

Pinar: Tatsächlich musste ich danach in Vorbereitung auf unser Gespräch eine vor Ort ansässige Kollegin fragen – auch in der Türkei ist das natürlich nicht gerade eine täglich genutzte Norm. Die Istanbuler Rechtsanwältin Ayse Bingol ließ mich aber wissen, dass auch ein türkischer Staatsbürger sich strafbar machen kann, wenn er sich beleidigend über ein ausländisches Staatsoberhaupt äußert.

Die Strafe erhöht sich gemäß Art. 340 des türkischen Strafgesetzbuches um ein Achtel, wenn eine Handlung sich gegen ein ausländisches Staatsoberhaupt richtet. Wenn, wie nach Art. 125 des türkischen Strafgesetzbuchs im Fall der Beleidigung, ein Strafantrag des Geschädigten Voraussetzung der Strafverfolgung ist, braucht es dann eine Beschwerde des betroffenen Staates.

Insgesamt verhält es sich nach den Informationen der Kollegin Bingol also wie im deutschen Recht, die von Ihnen angesprochene Gegenseitigkeit ist somit gegeben: Wenn ein türkischer Staatsangehöriger sich beleidigend über ein ausländisches Staatsoberhaupt äußert, das betroffene Land dasselbe Prozedere vorsieht und ein Strafverlangen des ausländischen Staates vorliegt, kann die Tat in der Türkei verfolgt werden.

Zitiervorschlag

Pia Lorenz, Erdogan und die Justiz: "Vielen Türken spricht Böhmermann aus der Seele" . In: Legal Tribune Online, 12.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19044/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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