Eine Frage der Wahrheit: Freispruch und Schadensersatz im Fall Kachelmann

von Prof. Dr. Christian Wolf, Hanna Schmitz

19.11.2012

2/2: Beweiserhebung: Nemo tenetur vs. Wahrheitspflicht

Ihm gewährt der Grundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss (nemo tenetur se ipsum accusare) im Strafverfahren nicht nur ein Schweigerecht im Hinblick auf ihn möglicherweise belastende Tatsachen. Vielmehr räumt diese Maxime des Strafverfahrens dem Angeklagten dadurch sogar unmittelbar ein Recht zur Lüge ein.

Im Zivilprozess sind die Parteien dagegen gemäß § 138 Zivilprozessordnung (ZPO) bedingungslos zur Wahrheit und Vollständigkeit verpflichtet. Es erklärt sich von selbst, dass aufgrund dieser umfassenden Erklärungspflicht die Ergebnisse der Straf- und Zivilrichter bei der Beweiserhebung auseinanderfallen können.

Schließlich ergeben sich nicht nur bei der Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen wesentliche Ungleichmäßigkeiten. Auch hinsichtlich der Bewertung des erhobenen Beweises sind die Richter an verschiedene Grundsätze gebunden.

Beweisbewertung: In dubio pro reo und Beweislast

Vor den Zivilgerichten muss jede Partei die Tatsachen beweisen, die für sie günstig sind. Das sind auf Seiten des Anspruchstellers grundsätzlich alle anspruchsbegründenden Tatsachen. Der Anspruchsgegner muss die Fakten beweisen, welche die Forderung vernichten oder hindern können.

Das Strafrecht ist dagegen geprägt von dem Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" (in dubio pro reo). Freilich handelt es sich dabei nicht um eine Beweis-, sondern vielmehr um eine Entscheidungsregel.

So kommt die Formel grundsätzlich erst dann zum Einsatz, wenn nach abgeschlossener Beweiswürdigung noch Zweifel an einer Tatsache bestehen, die für die konkrete Rechtsfolge entscheidungserheblich ist In dubio pro reo ist nicht nur auf den Schuldspruch anzuwenden. Vielmehr hat das Gericht auch bei den einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen im Zweifel die für den Angeklagten günstigen Umstände anzunehmen.

Von Mannheim nach Frankfurt: Akten ja, Überzeugung nein

Ein Freispruch im Strafverfahren kann also nicht ohne weiteres auch einen Schadensersatzanspruch im Zivilprozess begründen. Allein der Freispruch belegt noch lange nicht, dass das Gericht von den vorgetragenen Tatsachen überzeugt war. Im Gegenteil: Bei Anwendung des in dubio pro reo-Grundsatzes ergeht er gerade auf Grund von Zweifeln.

Der Freispruch von Jörg Kachelmann durch das LG Mannheim belegt also noch nicht die Unwahrheit der Zeugenaussage von Claudia D. Vielmehr erging das Urteil zugunsten des Wettermoderators gerade, weil die vom Wahrheitsgehalt ihrer Aussage nicht vollständig überzeugt waren. Im zivilrechtlichen Prozess ist die Klärung der Frage, ob Claudia D. falsch ausgesagt hat, jedoch essentiell für die Entscheidung über den Schadensersatzanspruch. Die Beweislast für diese Tatsache liegt bei Jörg Kachelmann.

Es ist nun Aufgabe des ehemaligen Wettermoderators, das Gericht davon zu überzeugen, dass Claudia D. vorsätzlich falsch ausgesagt hat. Die Frankfurter Richter müssen hierzu zwar die Akten des Mannheimer Strafverfahrens beiziehen. Ihre eigene richterliche Überzeugung aber müssen sie sich völlig selbständig erarbeiten.

Der Autor Christian Wolf ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches- Europäisches und Internationales Zivilprozessrecht an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover, die Autorin Hanna Schmitz ist Mitarbeiterin am dortigen Lehrstuhl.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Christian Wolf, Hanna Schmitz, Eine Frage der Wahrheit: Freispruch und Schadensersatz im Fall Kachelmann . In: Legal Tribune Online, 19.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7574/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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