Die Grünen wollen den Rechtsausschuss zwingen, sich mit der Homo-Ehe zu befassen. Der Ausschuss hält sich für den falschen Gegner. Zu Unrecht, meint Frauke Brosius-Gersdorf. Sie hält den Antrag vor dem BVerfG sogar für offensichtlich begründet.
Es ist in der parlamentarischen Praxis nicht unüblich, dass die Parlamentsmehrheit Gesetzesvorlagen der Opposition dilatorisch behandelt. Bereits in einer seiner ersten Entscheidungen aus dem Jahr 1952 musste das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sich mit dem Verschleppen von Gesetzesinitiativen durch Ausschüsse des Deutschen Bundestags beschäftigen. Und darum geht es auch in dem jüngsten Verfahren vor dem BVerfG, das die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen am 17. Mai 2017 anhängig gemacht hat.
Hintergrund des Verfahrens ist der Gesetzentwurf zur Öffnung der Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare (sog. Ehe für alle), den die Fraktion am 10. Juni 2015 beim Bundestag eingebracht hat. Bis zum heutigen Tag hat der federführend mit dem Gesetzentwurf betraute Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz dem Bundestag hierzu keine Beschlussempfehlung gegeben. Der Gesetzentwurf wurde zwar wiederholt auf die Tagesordnung genommen, ebenso wiederholt (insgesamt 27mal) jedoch jedes Mal wieder abgesetzt. Es hat keine abschließende Beratung des Gesetzentwurfes und Beschlussfassung durch den Bundestag gegeben, ebenso wenig über die inhaltsgleichen Gesetzentwürfe des Bundesrats vom 11. November 2015 sowie der Fraktion Die Linke vom 23. Oktober 2013.
Hiergegen wendet sich die Bundestagsfraktion der Grünen mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Sie versucht durchzusetzen, dass der Ausschuss über die Gesetzentwürfe so zeitnah Beschluss fasst, dass der Bundestag in seiner letzten planmäßigen Sitzung am 30. Juni 2017 über die Gesetzentwürfe beschließen kann.
Das BVerfG ist sich nach Angaben einer Sprecherin der Eilbedürftigkeit der Angele-genheit sehr bewusst, entsprechend werde der Antrag auch behandelt. Nach LTO-Informationen ist der Rechtsausschuss einer Aufforderung zur Stellungnahme in der vergangenen Woche nachgekommen. Er stellt sich vor allem auf den Standpunkt, dass er gar nicht der richtige Antragsgegner sei. Dabei spricht vieles dafür, dass der Antrag der Grünen Erfolg haben wird, auch wenn eine höchstrichterliche Entscheidung hierzu bislang fehlt.
Die Fraktion, selbst und in Prozessstandschaft, gegen den Rechtsausschuss
Der Antrag der Grünen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung dient der Sicherung ihrer im Organstreitverfahren durchzusetzenden Rechte. Dort sind sowohl die Bundestagsfraktion der Grünen als auch der Ausschuss durch das Grundgesetz (GG) und die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags (GOBT) mit eigenen Rechten ausgestattete Teile des Bundestags und damit taugliche Antragstellerin bzw. Antragsgegner i.S.v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. § 63 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG).
Die Bundestagsfraktion kann auch unproblematisch geltend machen, dadurch in ihren verfassungsrechtlichen Rechten verletzt zu sein, dass der Ausschuss zu ihrem eigenen Gesetzentwurf keine Beschlussempfehlung für den Bundestag getroffen hat.
Im Hinblick auf die Gesetzentwürfe des Bundesrats und der Fraktion Die Linke kann die Bundestagsfraktion die Rechte des Bundestags im Wege der Prozessstandschaft geltend machen. Zwar hat das BVerfG bislang nur entschieden, dass Fraktionen als Teile des Verfassungsorgans Bundestag die Verletzung von dessen Rechten im Wege der Prozessstandschaft im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen rügen können (sog. interorganschaftlicher Streit). Ein Organstreit ist aber auch zulässig, wenn verschiedene Teile desselben Verfassungsorgans streiten (intraorganschaftlicher Streit).
Offensichtlich begründet
Das BVerfG muss die beantragte Anordnung erlassen, weil ein entsprechender An-trag der Grünen in der Hauptsache offensichtlich begründet wäre. Auf eine anderenfalls vorzunehmende Folgenabwägung wird es daher in Karlsruhe gar nicht mehr ankommen.
Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG beinhaltet das Gesetzesinitiativrecht aus Art. 76 Abs. 1 GG das subjektive Recht des initiierenden Organs auf Beratung und Beschlussfassung durch den Bundestag. Das Initiativrecht ist "erst dann voll zum Zuge gekommen, wenn das Plenum über die Vorlage beraten und – durch Annahme oder Ablehnung – Beschluß gefaßt hat", so die Karlsruher Richter.
Die Beschlussfassungspflicht des Bundestags folgt außerdem aus Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG ("Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen") sowie aus Art. 76 Abs. 3 Satz 6 GG. Die Vorschrift verpflichtet den Bundestag, über Vorlagen des Bundesrats in angemessener Frist zu beraten und Beschluss zu fassen. Aus-drücklich regelt sie zwar nur die Pflicht, sich mit Gesetzesvorlagen des Bundesrats zu befassen; sie ist aber Ausdruck eines allgemeinen Verfassungsgrundsatzes. Aus Art. 76 Abs. 3 S 6 wird daher eine allgemeine Beschlussfassungspflicht für Gesetzesvorlagen sämtlicher Initiativberechtigten abgeleitet.
Nicht zuletzt ist das Recht auf Beratung und Beschlussfassung durch den Bundestag verfassungsrechtlich durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gesichert, wonach die Abgeordneten des Deutschen Bundestags Vertreter des ganzen Volkes sind. Nach der Rechtsprechung des BVerfG wird das Volk "bei parlamentarischen Entscheidungen nur durch das Parlament als Ganzes, d.h. durch die Gesamtheit seiner Mitglieder, angemessen repräsentiert". Dies setze, so das höchste deutsche Gericht, "voraus, dass die endgültige Beschlussfassung über ein parlamentarisches Vorhaben dem Plenum vorbehalten bleibt". Alle Abgeordneten müssten die gleiche Mitwirkungsbefugnis haben und das Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung.
2/2: Verfassungsrechtliche Bedenken sind kein Argument
Das gilt übrigens unabhängig vom Inhalt des Gesetzentwurfs. Die Pflicht des Bun-destags zu Beratung und Beschlussfassung besteht, unabhängig davon, ob der Entwurf im Einklang mit dem Grundgesetz steht, was bei den Gesetzentwürfen zur Ehe für alle umstritten ist. Der Bundestag darf die Beratung und Beschlussfassung nicht verweigern, weil er die Gesetzesvorlagen für verfassungswidrig hält. Fehlende Verfassungskonformität eines Gesetzentwurfs kann zur Ablehnung durch den Bundestag führen. Nicht aber dazu, sich mit dem Gesetzentwurf gar nicht erst zu befassen.
Zeitlich gesehen muss der Bundestag Gesetzesvorlagen "in angemessener Frist" beraten und beschließen. Für Gesetzesvorlagen des Bundesrats regelt das wiederum ausdrücklich Art. 76 Abs. 3 S. 6 GG, die Vorschrift gilt aber für Gesetzesvorlagen aus der Mitte des Bundestags und der Bundesregierung entsprechend.
Welcher Zeitraum für die Beratung und Beschlussfassung angemessen ist, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Fest steht aber: Eine Vertagung der Beratung und Beschlussfassung einer Gesetzesvorlage auf unbestimmte Zeit verstößt in jedem Fall gegen Art. 76 Abs. 3 S. 6 GG.
Warum der Rechtsausschuss der richtige Antragsgegner ist
Diese Pflicht zur Beratung und Beschlussfassung von Gesetzesvorlagen in angemessener Frist obliegt nicht nur dem Bundestag als Ganzes, sondern auch den von ihm gebildeten Ausschüssen. Das BVerfG erkennt seit jeher an, dass ein wesentlicher Teil der Parlamentsarbeit traditionell außerhalb des Plenums geleistet wird. Der Bundestag darf Ausschüsse einrichten und ihnen einzelne seiner Aufgaben übertragen – etwa die Vorbereitung von Plenumsbeschlüssen.
Bedient er sich so zur Erfüllung seiner Gesetzgebungsaufgabe eines Ausschusses, ist dieser an die (Beratungs- und Beschluss-)Pflichten gebunden, die dem Bundestag verfassungsrechtlich obliegen. Soweit der Bundestag also Ausschüsse mit der Vorberatung und Beschlussempfehlung von Gesetzesvorlagen betraut, müssen diese darüber in angemessener Frist beraten und eine Beschlussempfehlung für das Plenum abgeben. Endgültig beraten oder gar Beschluss fassen dürfen Ausschüsse dagegen nicht. Ein Ausschuss ist immer nur vorbereitendes Beschlussorgan, er kann nie endgültig entscheiden, so das BVerfG.
Diese verfassungsrechtlichen Beratungs- und Beschlusspflichten der Ausschüsse konkretisiert die GOBT. Sie verpflichtet die Ausschüsse zur baldigen Erledigung der ihnen überwiesenen Aufgaben (§ 62 Abs. 1 S. 1 GOBT) und dazu, innerhalb angemessener Pflicht an das Plenum zu berichten und ihm einen Beschluss zu empfehlen (§ 62 Abs. 1 Satz 2 GOBT). Dieser bindenden Rechtspflicht dürfen sich die Ausschüsse nicht entziehen. Sie dürfen, in den Worten des BVerfG, nicht durch Verschleppen von Gesetzesvorlagen "die Beratung und Beschlußfassung durch das Plenum praktisch verhinder(n)".
Eventuelle Unklarheit kann nicht zu Lasten der Grünen gehen
Da somit sowohl dem Bundestag als auch seinen Ausschüssen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten verfassungsrechtliche Beratungs- und Beschlusspflichten obliegen, ist im Organstreit das Organ(-teil) passivlegitimiert, dem die betreffende Aufgabe obliegt. Dies gilt ungeachtet dessen, dass Adressat von Gesetzesinitiativen nach Art. 76 Abs. 1 GG der Bundestag als Kollegialorgan ist und ihn die abschließende Beratungs- und Beschlussfassungspflicht trifft.
Daraus folgt: Kommt ein Ausschuss des Bundestags seiner Beratungs- und Beschlussempfehlungspflicht (s. § 62 Abs. 1 GOBT) nicht nach, ist ein Verfassungsorganstreitverfahren gegen ihn zu richten. Tritt dagegen der Bundestag, obwohl der Ausschuss seine Verpflichtungen erfüllt hat, in die Beratung und endgültige Beschlussfassung nicht ein, ist der Bundestag passivlegitimiert im Organstreit.
Im Übrigen gilt: Da bislang höchstrichterlich nicht geklärt ist, ob bei der Verschleppung von Gesetzesvorlagen durch Ausschüsse des Bundestags der Ausschuss oder der Bundestag passivlegitimiert ist, kann diese Ungewissheit nicht zu Lasten des Antragstellers gehen. Selbst wenn die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen ihren Antrag also gegen den falschen Antragsgegner gerichtet hätte, könnte dies nicht zu ihren Lasten gehen.
Im Ergebnis gilt daher: Der federführend mit den Gesetzentwürfen zur Öffnung der Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare betraute Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz war verpflichtet, die Gesetzentwürfe in angemessener Frist zu beraten und dem Bundestag einen Beschluss zu empfehlen. Dieser Verpflichtung ist er nicht nachgekommen. Er hat die Gesetzentwürfe über mehrere Jahre hinweg 27 mal von der Tagesordnung abgesetzt und damit offensichtlich gegen seine Beratungs- und Beschlussempfehlungspflicht verstoßen. Das gilt umso mehr, als nicht erledigte Gesetzesvorlagen mit dem nahenden Ende der Legislaturperiode des 18. Deutschen Bundestags dem dem Demokratieprinzip immanenten Grundsatz der Diskontinuität anheimfallen.
Über den offensichtlich begründeten Antrag kann es daher nur eine Entscheidung geben.
Die Autorin Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf ist Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insb. Sozialrecht, Öffentliches Wirtschaftsrecht und Verwaltungswissenschaften an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover.
Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf, LL.M., Im Ausschuss verschleppt: Weshalb der Bundestag noch über die Ehe für alle abstimmen muss . In: Legal Tribune Online, 09.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23156/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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