BVerfG verneint Herausgabe der NSA-Selektorenliste: Ein bis­schen Spio­nage muss sein

von Christoph Smets

16.11.2016

Der NSA-Untersuchungsausschuss erhält keine Einsicht in die Selektorenliste, so das BVerfG am Dienstag zugunsten der Bundesregierung. Christoph Smets zu dem Urteil, das mehr als eine unangenehme Alles-oder-nichts-Entscheidung darstellt.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit am Dienstag veröffentlichtem Beschluss das Interesse der Bundesregierung an der Geheimhaltung der NSA-Selektorenliste höher eingestuft als das Informationsinteresse des Parlaments. Auch die Einsetzung einer "sachverständigen Vertrauensperson" wurde als unzureichend angesehen, um das parlamentarische Informationsinteresse des NSA-Untersuchungsausschusses zu erfüllen. Die (verfassungs-)politisch verständliche Entscheidung ist trotzdem ein Rückschlag für die demokratische Aufsicht über Geheimdienstaktivitäten.

NSA und BND hatten unter der Bezeichnung "Joint SIGINT Activity" ein "aus Verbalnoten bestehendes Geheimschutzabkommen" und ein Memorandum of Agreement darüber geschlossen, den "internationalen Fernmeldeverkehr in Krisenregionen" aufzuklären, so die Ausgangslage, die das BVerfG dem Urteil zugrunde legte. Dazu wurde der Datenverkehr eines Internet-Knotenpunkts in Frankfurt a. M. auf bestimmte Suchbegriffe, die sogenannten Selektoren, untersucht. Einerseits ließ sich schon aufgrund der unsicheren Filterung nicht ausschließen, dass dabei insbesondere deutsche Personen oder Firmen bespitzelt wurden, die der BND grundsätzlich nicht ausspähen darf (vgl. §§ 1 Abs. 2 und 2 Abs. 1 Nr. 4 Bundesnachrichtendienstgesetz). 

Andererseits hat der BND so der NSA faktisch bei deren Auslandsaufklärung gegen deutsche Interessen geholfen. Es verbinden sich daher rechtliche mit politischen Fragen zu einer hohen Brisanz für die deutsche Innen- und Außenpolitik. Daher fragte der NSA-Untersuchungsausschuss auch die Selektorenliste an, der Zugriff darauf wurde ihm aber verweigert. Stattdessen bestellte die Bundesregierung eine sachverständige Vertrauensperson  - wohlgemerkt der Regierung, nicht des Ausschusses -, die schließlich Bericht erstattete.

Vertrauensperson ersetzt die Akteneinsicht nicht

Unter Außerachtlassung der verfassungsprozessrechtlichen Fragen soll nur auf die wichtigsten materiellen Erwägungen des BVerfG Bezug genommen werden. Es erkennt an, dass das Recht auf Aktenvorlage unmittelbar aus dem Verfassungsrecht stammt (Art. 44 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz) und damit zum Kern des Untersuchungsrechts gehört. Dieses Recht zur Vorlage beziehe sich im Grundsatz auf alle Akten, die mit dem Untersuchungsgegenstand in Zusammenhang stehen. Damit waren jedenfalls die Aufzeichnungen über die bei der Überwachung verwandten Selektoren grundsätzlich vom Recht des Ausschusses auf Aktenvorlage erfasst, so das Gericht. Grundsätzlich bestimme außerdem der Ausschuss, welche Akten er benötigt und müsse sich auch nicht mit bloßen Auskünften oder Aktenteilen zufrieden geben. 

So sieht das BVerfG im Bericht der von der Bundesregierung beauftragten sachverständigen Vertrauensperson auch "keine Maßnahme an Erfüllung statt", weil diese – anders als der Ermittlungsbeauftragte nach § 10 Untersuchungsausschussgesetz (PUAG) – eine eigene inhaltliche Interpretation und rechtliche Würdigung vornimmt und damit nicht der Ausschuss, sondern die Bundesregierung "Herrin im Verfahren" ist. Die vom Autor zuvor geäußerte Auffassung, die Vertrauensperson sei letztlich Beauftragte der Bundesregierung, bestätigt das BVerfG und rechnet deren Bericht der Bundesregierung zu. 

Diese Feststellungen zum Recht auf Aktenvorlage würden im Grunde auch eine vollumfängliche Vorlage vertraulicher oder geheimer Akten gebieten. Somit bestehe auch ein besonderes Informationsinteresse an der Vorlage der Selektorenliste "zur Gewährleistung der demokratischen Rückanbindung der Nachrichtendienste und der Bundesregierung." Denn der internationale Austausch entkoppele die Informationsgewinnung zumindest teilweise von der demokratischen Verantwortung. Auch wiederholt das BVerfG seine in der Vergangenheit oft und nachdrücklich geäußerte Warnung vor den Gefahren einer anlasslosen Vorratsspeicherung von Daten. Laut BVerfG steht dem aber das Interesse der Bundesregierung an "funktionsgerechter und organadäquater Aufgabenwahrnehmung" entgegen.

Zitiervorschlag

Christoph Smets, BVerfG verneint Herausgabe der NSA-Selektorenliste: Ein bisschen Spionage muss sein . In: Legal Tribune Online, 16.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21178/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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