Veröffentlichung von Anklageschriften: Nicht im Sinne der Wahrheitsfindung

von Dr. Stefan Petermann

17.07.2014

Die Dokumentation von amtlichen Schriftstücken im Internet liegt im Trend: Netzpolitik.org leakt regelmäßig unveröffentlichte Gesetzentwürfe, Strafverteidiger Strate dokumentiert akribisch den Fall Mollath. In Strafverfahren setzt das StGB dem allerdings Grenzen, die nun das BVerfG bestätigte und die im Sinne der Wahrheitsfindung erforderlich sind, meinen Olaf Hohmann und Stefan Petermann.

Eine Unbekannte ist die am Ende des Strafgesetzbuchs (StGB) gelegene Vorschrift mittlerweile nicht mehr. Kontinuierlich wird Kritik an § 353d Nr. 3 StGB geübt, der die wortgetreue Wiedergabe von Teilen der Anklageschrift vor Verlesung in öffentlicher Verhandlung verbietet. Der aktuelle Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), dass die Strafnorm verfassungskonform ist (Beschl. v. 27.06.2014, Az. 2 BvR 429/12), wird die Rufe nach ihrer Aufhebung nicht verstummen lassen.

Solange der Gesetzgeber nicht tätig wird – und das sollte er nicht – bleibt es also dabei: der Inhalt einer Anklageschrift darf vor der mündlichen Verhandlung nur in indirekter Rede wiedergegeben werden.

1985 schon einmal vor dem BVerfG

Vor das BVerfG gelangt war § 353d Nr. 3 StGB, weil sich ein Mann mit einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Verurteilung durch das Amtsgericht Rinteln gewehrt hatte, nachdem seine Berufung und Revision erfolglos geblieben waren.

Grund für seine Verurteilung war, dass er wenige Tage nach der Eröffnung eines Hauptverfahrens gegen ihn wegen gewerbsmäßigen Betrugs sowohl Teile der Anklageschrift als auch den die Anklage teilweise zulassenden Beschluss des Landgerichts auf seiner Homepage im Wortlaut zum Download zur Verfügung gestellt hatte.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer inzident, dass § 353d Nr. 3 StGB verfassungswidrig ist, sofern die Veröffentlichung von Anklage und Eröffnungsbeschluss mit dem Willen des Angeklagten erfolge. Dabei stützte er sich auf den Tenor eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1985. Darin hieß es, dass § 353d Nr. 3 StGB "mit dem Grundgesetz vereinbar [ist], soweit die in dieser Bestimmung unter Strafe gestellte wörtliche Mitteilung der Anklageschrift oder anderer Schriftstücke ohne oder gegen den Willen des von der Berichterstattung Betroffenen erfolgt ist". Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass eine Verurteilung verfassungswidrig sei, wenn der Betroffene die Veröffentlichung selbst vorgenommen habe.

Bloße Veröffentlichung keine Meinungsäußerung

Diesen Umkehrschluss zog die Kammer zu Recht nicht. Der Beschluss aus dem Jahr 1985 enthält nämlich keine ausdrückliche Feststellung, dass die Vorschrift in jedem anderen Fall, etwa bei Veröffentlichung mit dem Willen des Betroffenen, mit der Verfassung unvereinbar wäre.

Auch der Verweis des Beschwerdeführers auf die Meinungsfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht blieben erfolglos. § 353d Nr. 3 StGB sei ein verhältnismäßiger und damit gerechtfertigter Eingriff in diese Grundrechte, so die Karlsruher Richter. Die wörtliche Mitteilung der Anklageschrift sei bereits begrifflich kein Meinen und Dafürhalten und könne daher nur als Tatsachenbehauptung geschützt werden.

Zwar könne die Mitteilung Voraussetzung für eine Meinungsäußerung und insoweit vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG) erfasst sein; eine Einschränkung aufgrund allgemeiner Gesetze – hier: § 353d Nr. 3 StGB – sei dann aber leichter möglich als bei einer Meinungsäußerung.

Nicht nur Rechtsgüter des Beschuldigten werden geschützt

§ 353d Nr. 3 StGB diene außerdem dem Schutz anerkannter Rechtsgüter – und zwar nicht nur solcher des Angeklagten. So bezwecke die Vorschrift den Schutz der Unbefangenheit von Laienrichtern und Zeugen, die durch eine vorzeitige wörtliche Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke beeinträchtigt werden könnten. Mittelbar diene die Vorschrift der Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip als Basis des gesamten Strafrechts nicht verwirklichen lässt. Daneben bezwecke § 353d Nr. 3 StGB den Schutz der Persönlichkeitsrechte der vom Verfahren Betroffenen und der für den Angeklagten bis zum Zeitpunkt der rechtskräftigen Entscheidung geltenden Unschuldsvermutung.

Der Betroffene kann aber weder über die Verwirklichung des Schuldprinzips noch über den Schutz der Persönlichkeitsrechte der übrigen Betroffenen – etwa der Mitangeklagten oder der Nebenkläger – verfügen. Die Vorschrift ist trotz bestehender Umgehungsmöglichkeiten – etwa durch die Mitteilung der Anklage in indirekter Rede – nicht schlechthin ungeeignet, ihre Zwecke zu erreichen.

Zudem habe der Gesetzgeber den Schutzbereich der Meinungsfreiheit so schonend wie möglich beschränkt, denn § 353d Nr. 3 StGB sanktioniere allein die öffentliche Mitteilung im Wortlaut vor der Erörterung in öffentlicher Verhandlung oder vor Abschluss des Verfahrens.

Das BVerfG hält die Vorschrift schließlich auch im engeren Sinne für verhältnismäßig, da einerseits Veröffentlichungen in Form der indirekten Rede vom Tatbestand ausgenommen sind und § 353d Nr. 3 StGB andererseits alle Verfahrensbeteiligten erfasst, einschließlich der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage. Wegen der Waffengleichheit könne auch der Betroffene nicht vom Anwendungsbereich der Vorschrift ausgenommen werden.

§ 353d Nr. 3 StGB ist verfassungskonform – der Ball liegt beim Gesetzgeber

Die Kammer hat klargestellt, dass die Vorschrift des § 353d Nr. 3 StGB auch bei Veröffentlichungen mit dem Willen des Betroffenen im Einklang mit dem Grundgesetz angewandt werden kann. Damit ist die Debatte über das richtige Verständnis des Tenors seiner Entscheidung aus dem Jahr 1985 zumindest insoweit beendet.

Nachdem die Vorschrift aus Sicht des BVerfG nicht objektiv oder schlechthin ungeeignet ist, die genannten Rechtsgüter zu schützen, liegt es nun am Gesetzgeber, die bis heute vorgebrachten und durch den Karlsruher Beschluss nicht ausgeräumten Bedenken zu prüfen und gegebenenfalls gesetzgeberisch tätig zu werden.

Die Praxis zeigt aber, dass bei Strafverfahren, die im besonderen Interesse der Öffentlichkeit stehen, bereits die indirekte Mitteilung des Wortlauts amtlicher Schriftstücke durch einen Verfahrensbeteiligten die Sorge begründen kann, Laienrichter und Zeugen könnten in ihrer Unbefangenheit beeinträchtigt werden. Wenn aber die Ermittlung der materiellen Wahrheit gefährdet wird, besteht Gefahr für die Verwirklichung der Gerechtigkeit im Strafprozess. Die Vorschrift verfolgt daher einen legitimen und für das Strafrecht bedeutsamen Schutzzweck – auch wenn Vertreter der Tagespresse § 353d Nr. 3 StGB als Ärgernis empfinden.

Die Autoren Dr. Hohmann und Dr. Petermann sind Rechtsanwälte und Partner bei Eisenmann Wahle Birk & Weidner am Standort Stuttgart. Beide sind überwiegend auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts tätig und sind Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen zu Themen des Straf- und Strafverfahrensrechts. Der Autor Dr. Hohmann ist zudem Autor und Mitherausgeber eines Kommentars zur Strafprozessordnung.

Zitiervorschlag

Stefan Petermann, Veröffentlichung von Anklageschriften: Nicht im Sinne der Wahrheitsfindung . In: Legal Tribune Online, 17.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12600/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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