Das BGH-Urteil zur Rechtmäßigkeit der Sterbehilfe ist vielen noch im Bewusstsein. Weniger bekannt ist, dass der Behandlungsabbruch durch die Hinterbliebenen im Sozialrecht eigentlich als vorsätzliche Tötung gilt und damit Ansprüche ausschließt. Wie das Bundessozialgericht dennoch im Einklang mit dem Willen des Patienten entschied, erläutert Bettina Karl.
Die klagende Witwe hatte ihrem Ehemann nach einem jahrelangen Wachkoma Sterbehilfe geleistet, indem sie die Behandlung abbrach. Die Staatsanwaltschaft erhob keine Anklage gegen sie. Dennoch verweigerte die zuständige Unfallkasse ihr Leistungen aus der Unfallversicherung für Hinterbliebene. Aus ihrer Sicht stand diesen der Leistungsausschluss nach § 101 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII entgegen. Danach haben Personen, die den Tod von Versicherten vorsätzlich herbeigeführt haben, keinen Anspruch auf Leistungen.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat nun im Einklang mit den Vorinstanzen entschieden, dass dieser Ausschluss bei rechtmäßiger Sterbehilfe nicht gilt und der Klägerin im Ergebnis die Leistungen zugesprochen (Urt. v. 4.12.2014, Az. B 2 U 18/13 R).
Dies mag nach Bauchgefühl und Gerechtigkeitsempfinden auf der Hand liegen. Juristisch ist dieses Ergebnis jedoch nur mit verfassungsrechtlichen Erwägungen zu begründen.
Sterbehilfe nach dauerhaftem Wachkoma
Der Ehemann der Klägerin befand sich mit seinem Fahrrad auf dem Heimweg von der Arbeit, als er von einem Motorrad erfasst wurde. Er stürzte auf die Bordsteinkante und zog sich dabei unter anderem ein schweres Schädelhirntrauma zu. Nach völligem Bewusstseinsverlust verblieb er in einem Wachkoma und konnte keine willkürlichen Reaktionen mehr zeigen. Die behandelnden Ärzte entschieden, ihn in einem Wachkomazentrum künstlich über eine Magensonde zu ernähren. Die beklagte Unfallkasse gewährte aufgrund des Arbeitsunfalls ihrem gesetzlich Versicherten die maximale Verletztenrente.
Nach vier Jahren stellten die Ärzte fest, dass eine positive Veränderung des Gesundheitszustands nicht mehr zu erwarten sei. Bei der Klägerin reifte deshalb der Entschluss, bei ihrem Ehemann die Versorgung über die Magensonde einzustellen. Sie erstellte mit ihren erwachsenen Söhnen einen Vermerk, nach dem sich der Verletzte vor seinem Unfall wiederholt und ganz klar geäußert habe, niemals nur durch lebensverlängernde Maßnahmen weiterleben zu wollen.
Die Klägerin und ihre Söhne entschieden einvernehmlich, den Versicherten sterben zu lassen. Die Klägerin war zur Betreuerin ihres Ehemanns bestellt worden. Nach Absprache mit der Heimleitung durchtrennte sie die der Ernährung dienende Magensonde. Der Versicherte verstarb einige Tage danach an Unterernährung, ohne nach dem Unfall das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Die Staatsanwaltschaft stellte das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen eines Tötungsdelikts mangels hinreichenden Tatverdachts im Hinblick auf das Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 25. Juni 2010 zur gerechtfertigten Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch ein (Az. 2 StR 454/09).
Patientenwille hat sich verwirklicht
Der Witwe standen Leistungen nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung jedoch nur zu, wenn der Tod ihres Mannes noch als Folge des Unfalls angesehen werden konnte. Dieser musste also die "rechtlich wesentliche Bedingung für den Tod" darstellen. Hier hatte die Klägerin aber selbst durch ihr aktives Tun eine Ursache für das Versterben in Gang gesetzt. Das BSG hatte also zu entscheiden, ob der Abbruch der lebenserhaltenden Maßnahmen eine neue wesentliche Bedingung gesetzt hat, welche die Kausalkette unterbrochen hätte.
Das Gericht bejahte die Kausalität, denn das Handeln begründe keine neue wesentliche Bedingung. Die Richter stellten für diese rechtliche Bewertung auf den früher geäußerten Willen des Verstorbenen ab, keine lebenserhaltenden Maßnahmen erdulden zu müssen. Dieser Wille sei erst als Folge des Fahrradunfalls zum Tragen gekommen. Seine Frau sei als Betreuerin nach § 1901a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) verpflichtet gewesen, diesem Willen in der medizinischen Behandlungssituation Geltung zu verschaffen.
Bei diesen Gründen des BSG ist auch zu bedenken, dass der Ehemann seinen Willen nicht mehr eigenständig äußern und umsetzen konnte. Aber § 1901a BGB, der eine rechtliche Verpflichtung begründet, seinen Willen umzusetzen, trägt der Menschenwürde des Patienten nach Art. 1 Grundgesetz (GG) Rechnung.
2/2: Rechtmäßige Sterbehilfe ist keine vorsätzliche Tötung
Der Leistungsanspruch wegen eines Arbeitsunfalls war zunächst begründet. Allerdings stellte sich nun die Frage, ob diesem ein gesetzlicher Leistungsausschluss nach § 101 Abs. 1 SGB VII entgegensteht. Denn die Klägerin hatte den Tod ihres Mannes ja vorsätzlich herbeigeführt. Auf die strafrechtliche Bewertung und die Möglichkeit einer Rechtfertigung kommt es nach dem Wortlaut dieser Vorschrift gerade nicht an.
Das BSG hielt allerdings eine teleologische Reduktion der Ausschlussvorschrift für erforderlich, so dass sie auch bei einem vorsätzlichen Herbeiführen des Todes im Falle eines straffreien Behandlungsabbruchs keine Anwendung findet. Dies gelte jedenfalls für Fälle der gerechtfertigten Sterbehilfe im Sinne der neueren Rechtsprechung des BGH.
Der Gesetzgeber habe im Patientenverfügungsgesetz und insbesondere mit § 1901a BGB klargestellt, dass die Entscheidung des Einzelnen, keine lebensverlängernden Maßnahmen erdulden zu müssen, in ihrer Autonomie und durch die in Art. 1 des Grundgesetzes geschützte Menschenwürde generell zu berücksichtigen ist.
Diese gesetzliche Regelung war der Grund dafür, dass der BGH in seinem Urteil vom 25. Juni 2010 einen Behandlungsabbruch für straffrei erklärte.
Ebenso wie der BGH berücksichtigte nun auch das BSG diese Wertung aus § 1901 BGB. Ein straffreier Behandlungsabbruch könne daher auch im Sozialrecht nicht zu negativen Konsequenzen für Personen führen, die den rechtlich gebilligten Patientenwillen verwirklichten.
BSG betritt Neuland
Mit dem Argument des Patientenwillens betritt das BSG sowohl bei der Kausalitätsfrage als auch der Auslegung von § 101 SGB VII Neuland. Allerdings trafen die Richter eher eine Sonderentscheidung für einen Sonderfall. Das Urteil wird in der Bevölkerung dennoch sicherlich zustimmend aufgenommen werden, die Meinung unter Juristen wird wohl eben so sicher gespalten sein.
Diese Entscheidung ist schwierig abzugrenzen zu einem früheren Fall, in welchem ein Zeuge Jehovas nach einem Arbeitsunfall aus religiösen Gründen eine Bluttransfusion verweigerte und aufgrund dessen verstarb (Urt. v. 9.12.2003, Az. B 2 U 8/03 R). Dies unterbrach die Kausalität zwischen dem Arbeitsunfall und dem Tod, denn sie lag in der Glaubensrichtung des Verletzten begründet. Im vorliegenden Fall realisierte sich dagegen der bereits früher geäußerte Wille des Ehemanns, weil er einen Arbeitsunfall erlitt, der zu lebensverlängernde Maßnahmen führte.
Das BSG setzt sich ferner nicht in Widerspruch zu einem Urteil im Rentenrecht. Dort regelt § 105 SGB VI einen dem § 101 Abs. 1 SGB VII entsprechenden Anspruchsausschluss. Der 13. Senat entschied damals, dass im Falle einer strafbaren Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB kein Anspruch auf Hinterbliebenenrente besteht (Beschl. v. 17.4.2012, Az. B 13 R 347/10 B).
Es bleibt die Frage, warum dieser bewegende Fall gerichtlich geklärt werden musste. Makaber mutet dabei die Überlegung an, dass die seit vier Jahren andauernde sehr hohe Leistungspflicht der Unfallkasse durch den Tod beendet wurde. Ohne den Behandlungsabbruch hätte der Versicherte noch lange im Wachkoma weiterleben können und die Unfallkasse wäre zur Zahlung verpflichtet geblieben. Die eingeklagten Leistungen für die Klägerin fallen dagegen kaum ins Gewicht. Andererseits wandte die Unfallkasse die bestehenden Regelungen wortlautgetreu an. Dazu ist sie verpflichtet.
Die Autorin Dr. Bettina Karl ist Richterin am Sozialgericht und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundessozialgericht.
Dr. Bettina Karl, BSG zur Hinterbliebenenrente bei Sterbehilfe : Patientenwille überwiegt Gesetzeswortlaut . In: Legal Tribune Online, 05.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14026/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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