Brexit: Lernen von der Wie­der­ve­r­ei­ni­gung

von Dr. Alexander Niethammer

01.11.2016

Aus rechtlicher Sicht haben der Brexit und die Wiedervereinigung viel gemeinsam: Für einen politischen Umbruch sind langfristig geschlossene Verträge nur selten ausgelegt. Das galt damals wie heute, zeigt Alexander Niethammer.

 

Ihren Austritt aus der Europäischen Union beschlossen die Briten am 23. Juni 2016 per Volksentscheid. Wann Großbritannien der EU letztendlich den Rücken kehrt und in Einklang mit Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) die Gemeinschaft verlässt, ist noch offen. Derzeit ist das aber nicht die einzige Unklarheit. 

Offen ist auch, wie in Zukunft eine wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und dem Rest Europas aussehen wird: Von einer engen Kooperation innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) bis zur Autonomie des Landes steht alles im Raum.

Sicher ist, dass der EU-Austritt der Briten Auswirkungen auf bestehende Geschäftsbeziehungen zwischen deutschen und britischen Unternehmen mit sich bringt, denn die Reichweite dieses Ereignisses erstreckt sich auf nahezu alle Rechtsgebiete. Konsequenzen für das Gesellschaftsrecht, das Kartellrecht und Immaterialgüterrechte bleiben nicht aus, beispielsweise denke man nur an die Unionsmarke oder das Gemeinschaftsgeschmacksmuster. 

Deutschlands Geschichte und der Brexit

In umgekehrter Form gab es die Problematik schon einmal: Zur Bundesrepublik Deutschland kamen am 3. Oktober 1990 fünf Bundesländer mit eigenem Rechtssystem hinzu. Dadurch gab es Verträge innerhalb der damaligen DDR, denen die ursprünglich geltende gesetzliche Grundlage entzogen war. Zudem bestanden Vereinbarungen zwischen Unternehmen der DDR und der BRD, die unter der Prämisse geschlossen worden waren, dass die beiden Staaten nebeneinander weiterbestünden. 

Der Brexit stellt Unternehmen vor ähnliche Herausforderungen. Es gibt  Verträge, die beispielsweise die Nutzung von Unionsmarken betreffen. Diese gelten derzeit in sämtlichen EU-Ländern, auch in Großbritannien.

Was aber geschieht nach dem Brexit? Erlischt die Marke für das Gebiet Großbritanniens? Selbst wenn sie in Großbritannien weiterbesteht, gilt dann der Lizenzvertrag weiter für das Königreich, wenn eine Lizenz für "Staaten der Europäischen Union" erteilt wurde? Einschneidend wird auch die Frage nach Zöllen und Steuern auf den Handel zwischen EU-Staaten und Großbritannien werden. 

Die Lücke nach dem Umbruch

Werden Vertragsparteien mit einer solch grundlegend veränderten Situation konfrontiert, gilt es zunächst, eine Regelung im jeweiligen Vertrag zu finden, welche die Bedeutung und die Auswirkung des Ereignisses für den jeweiligen Vertrag sowie dessen einzelne Regelungen wiedergibt. 

Findet sich, wie wohl zumeist, keine explizite Regelung, ist nach Möglichkeiten im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung zu suchen.

Wovon wären die Parteien für den Fall des Eintretens der Situation der Wiedervereinigung oder des Brexit ausgegangen und worauf hätten sie die Regelungen bezogen? Beispielsweise könnte sich aus der Bestimmung des Gebiets eines Handelsvertreters als "alle Länder der EU" ergeben, dass auch Großbritannien nach einem Ausstieg aus der EU weiterhin Teil des Gebiets sein soll. Bei der Auslegung kommt es auf die individuelle Betrachtung der Vertragsparteien an. 

Meist besteht mangels Regelung ein großer Auslegungsspielraum. Häufig werden sich die Parteien auf kein Ergebnis einigen können, oder das Gericht nimmt eine Auslegung vor, mit der eine der Parteien nicht einverstanden ist. Eine fehlende vertragliche Regelung birgt also ein großes Risiko.

Deutsche Wiedervereinigung 

Im Kontext der deutschen Wiedervereinigung wurde sehr oft mit dem "Wegfall der Geschäftsgrundlage" argumentiert. Diesen zur damaligen Zeit noch richterrechtlichen Rechtsgrundsatz wandten die Gerichte an, wenn es aufgrund der Gesamtumstände als treuwidrig angesehen wurde, den Vertragspartner, der durch den Wegfall einen schweren Nachteil erlitten hatte, an der Vereinbarung festhalten zu wollen. Folge des Wegfalls der Geschäftsgrundlage ist in der Regel eine Vertragsanpassung.

Die Wiedervereinigung selbst stellte aber nicht per se einen Wegfall der Geschäftsgrundlage und damit Basis für eine Vertragsanpassung dar, sondern dies wurde je nach Einzelfall unterschiedlich gehandhabt. So hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Jahr 1993 entschieden, was heute auch in Artikel 232 § 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) geregelt ist: Auf vor der Wiedervereinigung geschlossene Wirtschaftsverträge zwischen ehemaligen volkseigenen Betrieben ist auch nach der Wende das Gesetz über das Vertragssystem in der sozialistischen Wirtschaft der ehemaligen DDR grundsätzlich weiterhin anzuwenden. 

Ein Wegfall der Geschäftsgrundlage liegt laut BGH jedenfalls dann nicht vor, wenn keiner der damaligen volkseigenen Betriebe (in Form der daraus entstandenen Kapitalgesellschaften) einen einseitigen, einschneidenden Nachteil erleide (Urt. v. 25.02.1993, Az. VII ZR 24/92).

Zitiervorschlag

Dr. Alexander Niethammer, Brexit: Lernen von der Wiedervereinigung . In: Legal Tribune Online, 01.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21013/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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