Weil sie geheime militärische Lageberichte veröffentlicht hat, wird die WAZ von der Bundesrepublik verklagt. Nun legt der Bundesgerichtshof die Sache dem EuGH vor. Eine Chance für die europäische Grundrechtsdogmatik, meint Ansgar Koreng.
Kann der Staat unter Berufung auf das Urheberrecht der Presse die Veröffentlichung brisanter Dokumente untersagen? Diese Kernfrage liegt einem Streit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) zugrunde. Ihre Entscheidung hat der Bundesgerichtshof (BGH) nun in die Hände des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gelegt.
Die WAZ hatte die sogenannten "Afghanistan-Papiere" der Bundeswehr auf ihrer Website veröffentlicht. Bei den Papieren handelte es sich um als Verschlusssache eingestufte Unterrichtungen des Parlaments über die Sicherheitslage in Afghanistan. An diese Dokumente waren die Journalisten der WAZ auf ungeklärte Weise gelangt, nachdem die Bundeswehr es zunächst abgelehnt hatte, der Zeitung die Dokumente freiwillig zur Verfügung zu stellen. Da es keine anderweitige rechtliche Handhabe gegen die Veröffentlichung gab, verklagte die Bundesrepublik Deutschland die WAZ unter Berufung auf das Urheberrecht – schließlich hatten Soldaten der Bundeswehr die Lageberichte verfasst.
Die Bundesrepublik konnte den Streit in den ersten zwei Instanzen für sich entscheiden. Die Richter am Land- und Oberlandesgericht Köln entschieden, dass es sich bei den Dokumenten um urheberrechtlich geschützte Sprachwerke handelte. Deren unbefugte Veröffentlichung verletze das aus § 12 UrhG folgende Erstveröffentlichungsrecht, das der Bundesrepublik als Dienstherrin der eigentlichen Urheber – der Soldaten – zustehe.
Zweckentfremdung des Urheberrechts
Dass die vom Urheberrechtsgesetz vorgesehenen Schrankenbestimmungen die Veröffentlichung nicht gestatten, wird man als relativ unstreitig bezeichnen dürfen. Gleichwohl sind Teile der Fachwelt der Ansicht, dass die Pressefreiheit sich in solchen Konstellationen aus grundrechtlichen Erwägungen heraus gegen das Urheberrecht durchsetzen sollte. Schließlich hatte der Gesetzgeber bei Schaffung des Urheberrechtsgesetzes den prototypischen verarmten Kreativen im Blick, den es zu schützen gelte.
In einem Fall wie dem der "Afghanistan-Papiere" wird das Urheberrecht indessen zweckentfremdet. Denn man wird kaum ernstlich behaupten können, dass es der Bundesrepublik um die "geistigen und persönlichen Beziehungen" des Urhebers zu seinem Werk oder um eine "angemessene Vergütung für die Nutzung des Werkes" geht (§ 11 UrhG). Vielmehr dient das Urheberrecht hier ganz wesentlich als Instrument zur Unterdrückung von Informationen – es wird zum "Zensurheberrecht".
Diese Zweckentfremdung hinterlässt bei vielen Gerichten einen faden Beigeschmack. So hatte das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg bereits Ende der 90er Jahre in Bezug auf die Veröffentlichung eines Anwaltsschriftsatzes die Auffassung vertreten, dass die Pressefreiheit dem Urheberrecht auch dann vorgehen kann, wenn keine der im Gesetz ausdrücklich genannten Ausnahmebestimmungen eingreift (Urt. v. 29.07.1999, Az. 3 U 34/99). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte diese Entscheidung damals gebilligt (Beschl. v. 17.12.1999, Az. 1 BvR 1611/99). Vor einigen Jahren hatte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner vielbeachteten "Ashby Donald"-Entscheidung geurteilt, dass die durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützte Meinungsfreiheit sich im Einzelfall durchaus gegen die Interessen des Urhebers durchsetzen kann – und zwar auch dann, wenn die geschriebenen Schranken des Urheberrechts dies eigentlich nicht hergeben (Urt. v. 10. Januar 2013, Az. 36769/08).
Restriktive Rechtsauffassung des I. Zivilsenats
Der BGH hat den Fall der "Afghanistan-Papiere" nun dem EuGH in Luxemburg vorgelegt. Vordergründig geht es um eine Auslegung der europäischen Urheberrechtsrichtlinie: Der BGH will wissen, ob die dort vorgesehenen Schranken der urheberrechtlichen Verwertungsrechte des Urhebers eine solche Veröffentlichung erlauben, wie sie durch die WAZ geschehen ist.
Den Vorlagebeschluss muss man auf Basis der bislang allein verfügbaren Pressemitteilung wohl dahingehend verstehen, dass der BGH dem geltenden Urheberrechtsgesetz keine Erlaubnis für die Veröffentlichung entnehmen möchte. Auch eine allgemeine Abwägung, wie sie in der Literatur teilweise vorgeschlagen wird, soll die Veröffentlichung nach Auffassung des für urheberrechtliche Angelegenheiten zuständigen I. Zivilsenats wohl nicht rechtfertigen können. Ob das Europarecht, namentlich das europäische Verfassungsrecht, eine liberalere Auslegung ermöglicht oder gar gebietet, soll nun der EuGH entscheiden.
2/2: Möglicher Konflikt zwischen EuGH und EGMR
Den europäischen Richtern wurde in der Vergangenheit häufig vorgeworfen, grundrechtliche Fragen allzu stiefmütterlich zu behandeln. Nun erhalten sie explizit die Gelegenheit, das Verhältnis des auf mancher Fachtagung schon spöttisch als "Supergrundrecht" bezeichneten Urheberrechts zu anderen hochrangigen Rechtsgütern – der Presse- und der Informationsfreiheit – zu klären.
Wie die Entscheidung ausgehen wird, ist schwer zu prognostizieren. Zwar hat der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung das Urheberrecht fast durchweg gestärkt, man denke nur an die äußerst umstrittene Entscheidung "GS Media" zur Linkhaftung (Urt. v. 08.09.2016, Az. C-160/15). Auf der anderen Seite hat der EuGH nach Artikel 6 Absatz 3 des EU-Vertrags bei der Rechtsanwendung aber auch die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention zu berücksichtigen, die ihrerseits verbindlich vom EGMR in Straßburg ausgelegt werden. Der wiederum hat sich in der erwähnten "Ashby Donald"-Entscheidung in einem ähnlich gelagerten Fall sehr deutlich für die Meinungsfreiheit stark gemacht.
Entmachtung des Bundesverfassungsgerichts?
Schließlich darf auch nicht außer Blick geraten, dass die im Vorlagebeschluss des BGH geäußerte Rechtsauffassung am Ende darauf hinausliefe, dass das BVerfG in dem Streit gar nicht mehr mitzureden hätte. Denn sollte der EuGH zu dem Ergebnis gelangen, dass die Urheberrechtsrichtlinie keinen Umsetzungsspielraum belässt, wäre sie nur am europäischen Primärrecht zu messen, nicht am Grundgesetz. Ob aber das BVerfG die These des BGH teilen würde, dass eine grundrechtliche Abwägung jenseits des geschriebenen Urheberrechts generell nicht in Betracht kommt, darf man mit Blick auf die Rechtsprechung zur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte (ausgehend von BVerfGE 7, 198 – "Lüth") durchaus für fraglich halten. Es wäre schwer erklärbar, weshalb gerade im Urheberrecht eine sonst allgemein anerkannte mittelbare Drittwirkung der Grundreche ausscheiden sollte. So könnte aus diesem urheberrechtlichen Streit am Ende eine handfeste Bewährungsprobe für den Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem werden.
Man kann der Bundeswehr nur danken, dass sie diesen Fall angestoßen hat, denn derart zugespitzt wird sich das Spannungsverhältnis von Urheberrecht und Meinungsfreiheit kaum mehr ein zweites Mal darstellen lassen. Der EuGH wird nun Farbe bekennen müssen. Es wäre wünschenswert, wenn er sich anlässlich dieses Streits darauf besinnen würden, wofür das Urheberrecht eigentlich einmal gedacht war.
Und wofür nicht.
Dr. Ansgar Koreng ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht in Berlin. Er und seine Berliner Kanzlei JBB Rechtsanwälte haben in erster und zweiter Instanz SPIEGEL ONLINE in einem ähnlich gelagerten Streit um die Veröffentlichung eines von einem Politiker verfassten Manuskripts vertreten, den der BGH Ende Juli entscheiden wird.
Ansgar Koreng, BGH legt Afghanistan-Papiere dem EuGH vor: Europäische Eskalation des Streits um das "Zensurheberrecht" . In: Legal Tribune Online, 01.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23093/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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