Wegweisender BGH-Beschluss: "Au­schwitz war ein Ort, an dem man nicht mit­ma­chen durfte"

von Marcel Schneider

28.11.2016

Nur selten wurde bisher jemand ohne direkte Beteiligung an Massenverbrechen verurteilt. Nun aber hat der BGH das Urteil gegen den frühere SS-Mann Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen bestätigt.

In einem der letzten großen NS-Prozesse ist es am Montag zur ersten höchstrichterlichen Entscheidung gekommen: Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Revision gegen das Urteil des Landgerichts (LG) Lüneburg verworfen. Damit ist der frühere SS-Mann Oskar Gröning rechtskräftig wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen verurteilt. Ob er die vierjährige Haftstrafe wirklich antreten muss, kommt auf die gesundheitliche Verfassung des heute 95-Jährigen an.

Das erscheint in Anbetracht der politischen Signalwirkung aber auch zweitrangig. Vielmehr kommt es darauf an, dass der BGH damit entschieden hat, dass schon ein Beitrag zum Funktionieren der NS-Vernichtungsmaschinerie ohne eigene direkte Beteiligung am Töten für eine Verurteilung ausreichen kann. Das ist immens, basiert das deutsche Strafrecht doch auf dem individuellen Schuldvorwurf einer konkret nachweisbaren Tat.

Wie das LG Lüneburg feststellte, waren im Rahmen der sogenannten Ungarn-Aktion mindestens 300.000 Juden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden. Dabei hatte Gröning in erster Linie die Aufgabe, das Gepäck der Deportierten zu bewachen, um diesen den Eindruck zu vermitteln, sie würden es später wiederbekommen. Während dieses Dienstes an der Rampe am Bahnsteig gehörte er auch zur Drohkulisse bei Ankunft der Transporte. Ebenso verwertete er den Inhalt der Gepäckstücke für die SS und es oblag ihm, die Deportierten zu überwachen oder Fluchtversuche mit Waffengewalt zu verhindern.

Beteiligung auch durch funktionelle Beihilfe

Indem der BGH die rechtliche Wertung der Vorinstanz bestätigte, läutete er höchstrichterlich die Wende ein. Bisher war kaum jemand wegen bloßer Beteiligung an Massenverbrechen verfolgt oder gar verurteilt worden. Hoffnung auf eine bundesrichterliche Entscheidung weckte neben dem Urteil des LG Lüneburg nur der Fall John Demjanjuk. Der ehemalige KZ-Wächter verstarb allerdings, bevor der BGH in seiner Sache entscheiden konnte, weshalb es nicht zur Entscheidung eines Bundesgerichts kam.

Das war aber nicht der einzige Unterschied zum Fall Gröning. Während es im Lager Sobibor für Demjanjuk nur Tätigkeiten gab, mit denen die Helfer sich am Töten beteiligten, sprach der BGH Gröning wegen Beihilfe  in allen mindestens 300.000 Fälle schuldig  – und zwar auch im Rahmen seiner nur "verwaltenden" Tätigkeiten abseits der Rampe. Damit steht nun fest, dass im Vernichtungslager Tätige auch ohne direkte Beteiligung an den konkreten Tötungshandlungen verurteilt werden können.

Nebenklägervertreter Professor Cornelius Nestler sprach von einer funktionellen Beihilfe, mit der nun endlich anerkannt werde, dass SS-Leute im Lager etwa durch Wachdienst bei der Ankunft der Transporte ebenfalls ihren Anteil zum Massenmord beitrügen. Generell bedeute dies: "Ausschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte." Damit zieht der Kölner Rechtsprofessor Parallelen zum Fall Demjanjuks.

Massenverbrechen als Rechtsinstitut im deutschen Strafrecht?

Der dogmatische Streit, jemanden ohne konkret nachgewiesene Tat zu belangen, ist mit der BGH-Entscheidung aber nicht vom Tisch. Eine große Überraschung ist sie indes nicht, zumindest nicht für Professor Christoph Safferling: "Eine anders lautende Entscheidung wäre politisch nur schwierig vermittelbar gewesen. Natürlich schimmert dabei im Hintergrund die diskutable Verjährungsproblematik durch. Insgesamt hat der BGH aber klare Kante gezeigt und konsequent entschieden." Von einem künftig fest integrierten Massenverbrechen im deutschen Strafrecht will er allerdings noch nicht sprechen.

Auch Bundesjustizminister Heiko Maas erklärte, für Gerechtigkeit sei es nie zu spät: "Auch bei der juristischen Aufarbeitung von Auschwitz darf es keinen Schlussstrich geben." Efraim Zuroff, Leiter des Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, das weltweit nach untergetauchten NS-Verbrechern sucht, forderte Deutschland auf, weiter NS-Handlanger zur Rechenschaft zu ziehen: "Die Zeit verringert nicht die Schuld dieser Mörder und ein hohes Alter sollte keinen Schutz für jene bieten, die so abscheuliche Verbrechen gegen Unschuldige jeden Alters begangen haben."

Mit Materialien von dpa

Zitiervorschlag

Marcel Schneider, Wegweisender BGH-Beschluss: "Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte" . In: Legal Tribune Online, 28.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21285/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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