Der Sterbewunsch eines Sexualstraftäters brachte unlängst das belgische Strafvollzugssystem in Verruf. Weil er seit Jahrzehnten im Gefängnis statt in der Psychiatrie untergebracht war, wollte er sein Leben beenden. Die Presse meldete gar, Belgien sei wegen ähnlicher Fälle schon vierzehn Mal vom EGMR verurteilt worden. Wie das sein kann, erläutert Marten Breuer.
Sexualstraftäter werden in der Öffentlichkeit oftmals ausschließlich als Gefahr, als "tickende Zeitbomben" wahrgenommen. Das Wort von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder "Wegschließen – und zwar für immer" ist manchem noch im Ohr.
Der Fall des wegen mehrfacher Vergewaltigung verurteilten Belgiers Frank Van den Bleeken macht eine andere, tragische Seite der Thematik deutlich. Van den Bleeken wollte sich mit der Gestattung des belgischen Staates das Leben nehmen, da er seit Jahrzehnten ohne nennenswerte psychologische Betreuung in Haft sitzt, ohne Perspektive auf Verbesserung seiner Situation. Seine sexuellen Wahnvorstellungen verursachen ihm nach eigenen Angaben unerträgliche Qualen. Damit war der Anwendungsbereich des 2002 in Belgien eingeführten Gesetzes bezüglich der Euthanasie eröffnet.
Nachdem ihm der assistierte Suizid Anfang Januar zunächst gestattet worden war, betrieben die am Verfahren beteiligten Ärzte aus nicht näher bekannten Gründen das Verfahren nicht weiter und vermieden so in buchstäblich letztem Augenblick einen unglaublichen Skandal. Denn es kann nicht sein, dass ein Mensch dadurch in den Freitod getrieben wird, dass keine ausreichenden Therapieeinrichtungen zur Verfügung stehen. Vor derartigen Missbrauchsgefahren warnen Gegner der aktiven Sterbehilfe schon seit langem – erst kürzlich fand zum Thema Sterbehilfe bzw. assistierter Suizid eine Debatte im Deutschen Bundestag statt.
Psychisch Kranke dürfen nicht in reguläre Haft
Dass Belgien nicht über ausreichende Therapieeinrichtungen für psychisch kranke Sexualstraftäter verfügt, und diese stattdessen in regulären Haftanstalten ohne ausreichende Therapieangebote unterbringt, ist ein seit Jahren bekannter Missstand. Art. 5 Abs. 1 Buchstabe e Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) lässt eine solche Freiheitsentziehung bei psychisch Kranken nur zu, wenn sie "rechtmäßig" ist. Das ist sie aber jedenfalls dann nicht mehr, wenn sie Jahre oder gar Jahrzehnte andauert, ohne dass eine psychologische Betreuung sichergestellt wäre.
Im Gegenteil kann die Unterbringung im Extremfall sogar eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. Der EGMR erkennt insoweit an, dass die Inhaftierung über einen langen und zugleich unbestimmten Zeitraum ohne jegliche Perspektive einer Verbesserung der Situation für die Betroffenen psychisch äußerst belastend sein kann, was der Fall Van den Bleekens auf krasse Weise verdeutlicht.
Presseberichten zufolge ist das Land deswegen schon vierzehn Mal vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt worden. Wie aber kann es sein, dass gleichwohl bislang keine Abhilfe geschaffen worden ist? Weigert sich der belgische Staat, den Urteilssprüchen aus Straßburg Folge zu leisten? Und wer wacht über die Umsetzung der Urteile des Gerichtshofs?
Ein Gesetz erschafft noch keine Therapieeinrichtung
Die schlechte haftrechtliche Bilanz Belgiens hat zunächst einmal praktische Gründe: Beruht eine Verletzung der EMRK beispielsweise auf einer einzelnen Gesetzesbestimmung, so kann der Gesetzgeber mit einem Federstrich, durch ein Aufhebungsgesetz, den Verstoß aus der Welt schaffen. So einfach liegen die Dinge hier aber nicht.
Ein Gesetz allein führt noch nicht zur Schaffung geeigneter Therapieunterbringungseinrichtungen für psychisch kranke Straftäter. Vielmehr müssen diese auch gebaut, das geeignete Personal ausgebildet und angestellt und die Psychiatrie schließlich in Betrieb genommen werden. Dies erfordert eine Vielzahl administrativer Maßnahmen. Das erklärt zumindest teilweise, warum noch keine grundlegende Besserung der belgischen Zustände eingetreten ist.
Vierzehn Urteile ergingen in zwei Jahren
Die bloße Zahl von vierzehn Verurteilungen erweckt zudem den Eindruck, dass Belgien bereits seit geraumer Zeit der Kritik aus Straßburg ausgesetzt sei. Tatsächlich datieren die ersten vier Grundsatzurteile des EGMR, jeweils am selben Tag verkündet, jedoch erst von Januar 2013 (Fälle Claes, L.B., Dufoort und Swennen). Eine weitere Gruppe von Urteilen, wiederum alle vom selben Tag, erging im Januar 2014 (Fälle Lankester, Gelaude und andere).
Allerdings hat der EGMR bereits in seinen Urteilen aus dem Jahr 2013 von einem "manque structurel", also einem strukturellen Defizit bei der Unterbringung psychisch kranker Straftäter in Belgien gesprochen. Diese Missstände waren den betroffenen Stellen schon damals bekannt – dennoch haben sie keine Veränderungen angestoßen.
Das Versagen des belgischen Staates liegt wohl einerseits in der Komplexität der Materie begründet. Zugleich kann man den Politikern durchaus ein Versagen vorwerfen. Vielleicht wollten sie ihren Wählern einfach nicht erklären, dass viele Steuermillionen in die Unterbringung von verurteilten Vergewaltigern fließen müssen.
2/2: Reicht es, dass Mitgliedstaaten sich selbst kontrollieren?
Ob und wie die Urteile des EGMR befolgt werden, überwacht das Ministerkomitee des Europarates, Art. 46 Abs. 2 EMRK. Das mag auf den ersten Blick überraschen, heißt es doch im Klartext, die Kontrolle der Urteilsumsetzung gerade jenen anzuvertrauen, die durch den EGMR kontrolliert werden sollen: den Mitgliedstaaten.
In der Praxis hat sich dieses Verfahren aber durchaus bewährt. Insbesondere der Druck durch die anderen Mitgliedstaaten führt in den meisten Fällen dazu, dass die Urteile letztendlich befolgt werden. Nur in absoluten Ausnahmefällen verweigern verurteilte Staaten dies offen.
Die Möglichkeiten der Überwachung sind in den letzten Jahren deutlich effektiver gestaltet worden. Das Ministerkomitee verlangt von den verurteilten Ländern heute die Vorlage eines sogenannten Aktionsplans, also eines Dokuments, das beschreibt, wie die Regierung gedenkt, das Urteil umzusetzen.
Einen solchen Plan hat die belgische Regierung zwar vorgelegt. Die darin angekündigten Maßnahmen gehen allerdings eindeutig nicht weit genug. Es sollen lediglich die betroffenen Inhaftierten erfasst werden, um anschließend den Bedarf an psychiatrischen Einrichtungen zu ermitteln. Konkretere Schritte zeigt das Papier nicht auf.
BVerfG und EGMR zur Sicherheitsverwahrung – eine komplexe Materie
Dass der Umgang mit inhaftierten Sexualstraftätern den Staat vor erhebliche Herausforderungen stellt, zeigt auch der Vergleich mit Deutschland. Hierzulande wird das Problem unter dem Stichwort "Sicherungsverwahrung" diskutiert.
Deren ursprüngliche gesetzliche Ausgestaltung hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zunächst gebilligt. Später aber wurde sie vom EGMR wegen Verstoßes gegen Art. 5 und 7 EMRK als konventionswidrig beurteilt. Das BVerfG hat in Reaktion auf das Urteil aus Straßburg von seiner ursprünglichen Beurteilung der Sicherungsverwahrung Abstand genommen und einen Verstoß auch gegen das Grundgesetz festgestellt.
Das BVerfG hat den staatlichen Stellen allerdings eine Frist von zwei Jahren bis Ende Mai 2013 eingeräumt, um die Vorgaben des Urteils zu realisieren. Dabei hat es berücksichtigt, dass die entsprechenden Maßnahmen, die zur Urteilsumsetzung notwendig sind, recht umfangreich sein werden. Auch in dieser Vorgabe zeigt sich, dass es eine komplexe und schwierige Aufgabe darstellt, diese Materie umzusetzen.
Das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung ist zwar gerade noch fristgemäß zum 1. Juni 2013 in Kraft getreten. Die Umbaumaßnahmen in der JVA Schwalmstadt konnten aber beispielsweise erst im August 2014 abgeschlossen werden.
Belgischer Justizminister gelobt Besserung
In Belgien scheint der Fall Van den Bleeken die Politik wachgerüttelt zu haben. Der belgische Justizminister Koen Geens hat in einer Pressemitteilung zum einen in Aussicht gestellt, Van den Bleeken in eine geeignete niederländische Einrichtung zu überstellen.
Zum anderen hat er angekündigt, innerhalb der nächsten sechs Monate einen Plan zur Schaffung angemessener Einrichtungen in Belgien vorzulegen. Denn eines bleibt gewiss: Allein aus Mangel an Therapieeinrichtungen darf es keine Sterbehilfe geben.
Der Autor Professor Dr. Marten Breuer ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit internationaler Ausrichtung an der Universität Konstanz. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist das Recht der EMRK.
Marten Breuer, Menschrechtswidrige Haftbedingungen in Belgien: Sterbehilfe statt Therapie? . In: Legal Tribune Online, 16.01.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14392/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag