Der nationalsozialistische Volksgerichtshof: Ein Füh­r­er­witz genügte zur Hin­rich­tung

von Prof. Dr. Klaus Marxen

28.04.2018

Von 1934 bis 1945 fällten die Richter des Volksgerichtshofs etwa 5.200 Todesurteile. Klaus Marxen erinnert an das Justizorgan der Nazis, dem sich jetzt auch eine Ausstellung in der Topographie des Terrors in Berlin widmet.

Die Richter des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs verurteilten fast ein Drittel der circa 16.700 Menschen, die vor ihnen standen, zum Tode. In den letzten Kriegsjahren wurde sogar nahezu jeder Zweite mit dem Tode bestraft. Die neuere Rechtsgeschichte der westlichen Hemisphäre kennt nichts Vergleichbares.

Der Volksgerichtshof gehört als ein wesentlicher Bestandteil der nationalsozialistischen Willkürherrschaft zur deutschen Unrechtsvergangenheit. Gegründet wird das Gericht im Jahr 1934: Es soll vom Reichsgericht die Aufgabe übernehmen, schwere politische Straftaten in erster und zugleich letzter Instanz abzuurteilen. Schließlich misstraut die nationalsozialistische Führung dem Reichsgericht in Leipzig. Hat es doch im Prozess wegen des Reichstagsbrandes vier der Angeklagten, führende Mitglieder der KPD, aus Mangel an Beweisen freigesprochen und nur den Niederländer Marinus van der Lubbe zum Tode verurteilt. Das neue Gericht entsteht zunächst als Sondergericht, zu dem Richter aus anderen Gerichten abgeordnet werden.

Erst 1936 wird es zu einem ordentlichen Gericht mit einem eigenen Haushalt. Als Sitz wird die Reichshauptstadt Berlin bestimmt. Das Volk soll in dem neuen Gericht durch ehrenamtliche Richter vertreten sein. In der Verhandlung haben sie zu dritt die Mehrheit gegenüber zwei Berufsrichtern. Die Auswahl sorgt für politische Zuverlässigkeit. Die Laienrichter entstammen in der Regel der NSDAP und ihren Organisationen, dem Militär oder der Polizei. Die Ernennung der Richter erfolgt durch den Reichskanzler auf Vorschlag des Reichsjustizministers. Zum ersten etatmäßigen Präsidenten ernennt Hitler den bewährten Parteigenossen Otto Georg Thierack. Die Umstände der Entstehung des Gerichts machen klar, was von ihm erwartet wird. Der spätere Präsident Roland Freisler formuliert es in einem Brief an Hitler so: "Der Volksgerichtshof wird sich stets bemühen, so zu urteilen, wie er glaubt, daß Sie, mein Führer, den Fall selbst beurteilen würden."

Grausame Urteilspraxis zur Verbreitung von Angst und Schrecken

Die grausame Urteilspraxis des Gerichts sollte mehr bewirken als die Vernichtung politischer Gegner. Beabsichtigt war auch, Angst und Schrecken zu verbreiten, um Widerstand im Keim zu ersticken.

Plakate an Litfaßsäulen und Hauswänden verkündeten Todesurteile und Hinrichtungen. Das Gericht tagte nicht nur in Berlin, sondern zeigte Präsenz durch Verhandlungen im gesamten Herrschaftsbereich. Der seit 1942 amtierende Präsident Freisler prägte einen Verhandlungs- und Urteilsstil, der darauf zielte, die Angeklagten zu erniedrigen und vor jeder Nachahmung zu warnen. Im Verlauf seiner Tätigkeit gewann der Volksgerichtshof ständig an Wirkungsmacht, geradezu sprunghaft nach Kriegsbeginn. Seine Zuständigkeit wurde weit über den Bereich von Hoch- und Landesverrat hinaus ausgedehnt, z. B. auf Fälle der Vermögensverschiebung ins Ausland, der Wehrmittelbeschädigung, der Wehrkraftzersetzung und des Unterlassens von Anzeigen.

Der Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes, die Besetzung von Böhmen und Mähren und die Kriegseroberungen vergrößerten die territoriale Zuständigkeit. Außerdem steigerte der Gerichtshof selbst seine Wirkungsmacht durch eine exzessive Urteilspraxis. Ein Beispiel: Der Führerwitz, der Zweifel am Endsieg und ähnliche Unmutsäußerungen wurden ohne Rücksicht auf gesetzliche Grenzen als todeswürdige Schwerstverbrechen der Wehrkraftzersetzung abgeurteilt. Laut Gesetz musste die Bekundung "öffentlich" erfolgt sein. Gleichwohl bestraften die Richter auch Äußerungen im engsten Privatkreis mit dem Tode. Es reicht aus, so hieß es, wenn der Täter mit der Möglichkeit hat rechnen müssen, dass das Gesagte weitergetragen wird. Das wurde regelmäßig bejaht.

Ein Luftangriff Anfang Februar 1945 zerstörte das Gerichtsgebäude in der Bellevuestraße. Auf dem Weg in den Luftschutzkeller wurde Präsident Freisler tödlich getroffen. Unbeirrt tagte das Gericht bis in den April hinein andernorts weiter. Erst das Heranrücken der Front und das Chaos der letzten Kriegstage führten ein Ende herbei. Formal endete die Existenz des Volksgerichtshofs im Oktober 1945 mit einer Erklärung des Alliierten Kontrollrates.

Schleppende politische und rechtliche Aufarbeitung

Erst vier Jahrzehnte nach Kriegsende fand die Vertretung des Volkes mit der nötigen Deutlichkeit zu einem Urteil über ein Justizorgan, das im Namen des Volkes Schrecken verbreitetet hatte. Was "Volksgerichtshof" genannt wurde, so der Deutsche Bundestag am 25. Januar 1985, war nichts anderes als ein "Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaf". Weitere 13 Jahre vergingen, bis abschließend Klarheit geschaffen war in der Frage, ob Entscheidungen des Volksgerichtshofs weiterhin rechtlich galten. Ein Gesetz vom 25. August 1998 hob sämtliche dieser Entscheidungen auf.

Aufzuarbeiten war auch das Verhalten der Personen, die es erst möglich gemacht hatten, dass das "Terrorinstrument" seine Wirkung entfalten konnte. In erster Linie ging es um 106 Berufsrichter, 292 Laienrichter und 179 Staatsanwälte. Mitgewirkt hatten auch viele Volksgenossen, die andere angezeigt hatten. Nur ein verschwindend geringer Teil dieses Personenkreises wurde juristisch zur Verantwortung gezogen. Fünf Volksgerichtshofsjuristen saßen 1946 auf der Anklagebank im sogenannten Nürnberger Juristenprozess der amerikanischen Besatzungsmacht. Soweit es zu einer Verurteilung kam, fielen die verhängten Freiheitsstrafen milde aus. Zudem verhalf das politische Klima des Kalten Krieges den Verurteilten schon bald zu einer vorzeitigen Entlassung.

Im Osten Deutschlands internierte die sowjetische Besatzungsmacht unmittelbar nach Kriegsende einige Beteiligte an der Volksgerichtshofsjustiz und übergab sie zusammen mit einer großen Zahl weiterer Internierter 1950 der DDR-Justiz zur Aburteilung. Das Landgericht Chemnitz verhängte im Rahmen von rechtsstaatswidrigen Massenprozessen im sächsischen Zuchthaus Waldheim gegen vier Staatsanwälte hohe Freiheitsstrafen und in einem Fall die Todesstrafe, die auch vollstreckt wurde. Die zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten wurden im Laufe der fünfziger Jahre freigelassen und in die Bundesrepublik abgeschoben. Mit dem Volksgerichtshof befasste sich die DDR-Justiz noch einmal im Jahr 1982 in einem Verfahren gegen einen ehemaligen Richter. Sie verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren.

NS-Juristen weiter im Justizdienst der Bundesrepublik

In der Frühzeit der Bundesrepublik blieben die Richter und Staatsanwälte des Volksgerichtshofs gänzlich unbehelligt. Viele arbeiteten weiterhin in juristischen Berufen. Anderes gilt für einige Denunzianten, die angeklagt und teilweise zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Sie hätten, so lautete der Vorwurf, die Angezeigten angesichts der bekanntermaßen willkürlichen und grob rechtswidrigen Praxis des Volksgerichtshofs einem vorhersehbaren Schicksal ausgeliefert. Die naheliegende Konsequenz, dass umso mehr eine Verfolgung der Richter und Staatsanwälte angezeigt ist, wurde nicht gezogen. Zu Strafverfolgungsmaßnahmen kam es erst durch Anstöße von außen.

Eine politische Propagandaaktion der DDR deckte Ende der fünfziger Jahre auf, dass viele belastete NS-Juristen, darunter auch Richter und Staatsanwälte des Volksgerichtshofs, im Justizdienst der Bundesrepublik tätig waren. Die Berliner Staatsanwaltschaft, der die Zuständigkeit für alle Verfahren gegen Mitwirkende am Volksgerichtshof übertragen worden war, erhob nach umfangreichen Ermittlungen eine erste Anklage. Sie zielte darauf, eine Klärung der Sach- und Rechtslage als Grundlage für weitere Anklagen zu erreichen. Die Klärung blieb jedoch aus.

Der angeklagte Richter Rehse verstarb, bevor es zu einem rechtskräftigen Urteil kam. Im Laufe des Verfahrens waren allerdings gerichtliche Zwischenentscheidungen ergangen, die die Mitwirkung Rehses an Todesurteilen für straflos erachteten oder jedenfalls die Straflosigkeit nahelegten. Auch Richter des Volksgerichtshofs, so hieß es, waren unabhängig im Sinne des Gesetzes. Das habe zur Folge, dass ihnen Mord nur angelastet werden könne, wenn zugleich der Vorsatz, das Recht zu beugen, nachweisbar sei. Der Rechtsbeugungsvorsatz müsse ein unbedingter gewesen sein; ein schwacher, nur bedingter Vorsatz genüge nicht. Diese hohen Vorsatzanforderungen seien nicht erfüllt. Die Justiz der Bundesrepublik bewahrte mit dieser Strafbarkeitseinschränkung, "Richterprivileg" genannt, ehemalige Berufskollegen vor weiterer Verfolgung. Die Berliner Staatsanwaltschaft stellte ihre Ermittlungen ein.

Keine Anwendung des Richterprivilegs

Ende der siebziger Jahre zeigten Kinos die wieder aufgefundenen Filmaufnahmen von den Verfahren gegen die Beteiligten am Widerstand vom 20. Juli 1944. Sie lösten öffentliche Empörung aus und führten zu Strafanzeigen. Die Staatsanwaltschaft betrieb nunmehr die Verfahren auf veränderter Rechtsgrundlage: Da der Volksgerichtshof ein bloßes Scheingericht gewesen sei, komme das Richterprivileg nicht zur Anwendung. Ein erfolgreicher Verfahrensabschluss wurde jedoch nicht mehr erreicht. Zu viel Zeit war vergangen.

Tod oder Verhandlungsunfähigkeit führten in fast allen Fällen zur Einstellung. Das einzige Verfahren, in dem es zur Anklage kam, endete kurz vor Beginn der Hauptverhandlung durch Selbsttötung des angeklagten ehemaligen Richters Reimers. Fazit: Die strafrechtliche Aufarbeitung war ein Fehlschlag, gemessen am Maßstab einer zügigen, strikt rechtsstaatlichen, politisch unbeeinflussten Bewältigung der Unrechtsvergangenheit durch eine auf Selbstreinigung bedachte Justiz.

Prof. Dr. Klaus Marxen ist Hochschullehrer für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie. 2015 veröffentlichte er den Roman "Weiheraum" - Ein Roman über Täter und Opfer des Volksgerichtshofs.

Das Berliner Dokumentationszentrums Topographie des Terrors beschäftigt sich mit dem Volksgerichtshof in einer Ausstellung: "Der Volksgerichtshof 1934-1945. Terror durch 'Recht'". Sie ist bis zum 21.10.2018 zu sehen.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Klaus Marxen, Der nationalsozialistische Volksgerichtshof: Ein Führerwitz genügte zur Hinrichtung . In: Legal Tribune Online, 28.04.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28337/ (abgerufen am: 27.03.2024 )

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