Ausgangssperren wegen Corona: Im Kata­stro­phen­fall geht das

Gastbeitrag von PD Dr. Alexander Thiele

20.03.2020

Die bayerischen Behörden stützen erste Ausgangssperren wegen der Corona-Pandemie auf das Infektionsschutzgesetz. Das ist zweifelhaft. Anders sieht es aber aus, wenn die Länder den Katastrophenfall ausrufen, zeigt Alexander Thiele.

Die Corona-Pandemie schreitet voran und die Ereignisse überschlagen sich. Während vor wenigen Tagen noch über "Geister-Fußballspiele" vor leeren Rängen diskutiert wurde, sind mittlerweile sämtliche Schulen geschlossen, Bibliotheken verweist, Geschäfte – bis auf wenige Ausnahmen – nicht mehr geöffnet und sogar Spielplätze völlig kinderleer. Die Bundeskanzlerin hat sich erstmals überhaupt (abgesehen von ihrer jährlichen Neujahrsansprache) mit einem eindringlichen Appell direkt an die Bürger gewandt und gebeten, soziale Kontakte zu reduzieren und sich nicht in Gruppen fortzubewegen, denn die Lage "ist ernst."

Dennoch ist unklar, ob diese Maßnahmen reichen werden, die Ausbreitung des Virus zu verhindern bzw. zumindest die Geschwindigkeit der Ausbreitung zu verlangsamen. Und in der Tat: Noch immer sind viele Menschen auf den Straßen unterwegs, in Großstädten waren die öffentlichen Parks und Plätze – wetterbedingt – noch gestern sehr viel voller als es die Lage an sich zulässt. Es verwundert daher nicht, dass in der Öffentlichkeit und der Politik bereits über die Verhängung einer allgemeinen Ausgangssperre nachgedacht wird.

Diese beträfe dann – anders als die Quarantäne – alle Bürger unabhängig von einer möglichen Erkrankung. Zulässig blieben wohl nur noch notwendige Besorgungen und Arztbesuche, so ist die Lage etwa in Italien, Spanien und Frankreich. Damit aber stellt sich aus juristischer Perspektive umgehend die Frage: Wäre das auch in Deutschland zulässig? Und wenn ja: Unter welchen Voraussetzungen?

Diese Fragen sind tatsächlich weniger leicht zu beantworten als gedacht. Einige Stimmen kommen denn auch zum Ergebnis, dass eine solche Maßnahme nach der bestehenden Rechtslage nicht zulässig wäre und fordern den Bundestag auf, das Infektionsschutzgesetz (IfSG) entsprechend anzupassen. Gegen eine solche Erweiterung ist nichts einzuwenden. Ich glaube aber, dass sie jedenfalls nicht zwingend erforderlich ist.

Klar ist zunächst, dass eine solche Maßnahme eine gesetzlichen Grundlage erfordert. Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt eine solche schon bei kleineren Eingriffen in das Grundgesetz (GG) und von klein kann hier keine Rede sein. Betroffen sind neben der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) die Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2) um nur einige zu nennen.

Das Infektionsschutzgesetz reicht nicht aus

Auf der Suche nach einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage wandert der Blick in das IfSG. Dieses speziell auf die Bekämpfung von Infektionskrankheiten ausgerichtete Gesetz sieht eine Reihe von Maßnahmen vor, die die zuständigen Landesbehörden in einer solchen Situation ergreifen können. Das beginnt mit § 16 Abs. 1 IfSG wonach die Behörde die "notwendigen Maßnahmen" zur Abwendung der Gefahren treffen kann und endet bei der Anordnung der Quarantäne erkrankter Personen nach § 30 Abs. 1 IfSG. Dazwischen liegen die Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG, der unter anderem erlaubt, Personen dazu zu verpflichten, "den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder (…) bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind." Eine allgemeine Ausgangssperre findet sich dort jedoch explizit nicht.

Dennoch stützen die Behörden im bayerischen Mitterteich ihre Anordnung auf eben diesen § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Eine nähere Analyse lässt das allerdings sehr zweifelhaft erscheinen, worauf bereits die Jenaer Juniorprofessorin Dr. Anika Klafki auf juwiss.de und anschließend Andrea Edenharter, Professorin an der FernUni Hagen auf dem Verfassungsblog hingewiesen haben. Denn § 28 IfSG erlaubt nur vorübergehende Maßnahmen, was sich vor allem aus dem Satzteil "bis andere Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind" ergibt. Er erfasst daher vor allem Fälle, in denen Personen etwa auf einem Schiff dazu angehalten werden, dort zu bleiben, bis die sichere Evakuierung möglich ist. Ohnehin wäre die Anordnung, "den Ort nicht zu verlassen, an dem man sich befindet" offenkundig etwas anderes als zu Hause zu bleiben. Denn dazu müssten viele ja erst einmal nach Hause gehen.

Das mag etwas haarspalterisch wirken, ist aber gerade in diesem sensiblen Grundrechtsbereich zwingende Dogmatik: Die Anforderungen an die Bestimmtheit steigen mit der Grundrechtsrelevanz der Maßnahme. Daher kann eine allgemeine Ausgangssperre auch nicht auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützt werden, die lediglich klarstellt, dass die Behörden "notwendige Schutzmaßnahmen" nach dem IfSG treffen können.

Anders sieht es im Katastrophenfall aus

Dennoch ist die Anordnung einer allgemeinen Ausgangssperre aus meiner Sicht im Ergebnis zulässig, allerdings nicht nach dem IfSG, sondern nach den Katastrophenschutzgesetzen der Länder. Sämtliche Länder haben solche Gesetze erlassen, die dogmatisch dem besonderen Polizei- und Ordnungsrecht zuzuordnen sind. Sie finden allerdings im Normalfall keine Anwendung. Vielmehr bedarf es dazu zunächst einer besonderen Ausrufung des Katastrophenfalls, wobei das natürlich an materielle Schranken gebunden ist. Der Begriff der Katastrophe ist insofern zwar ein unbestimmter Rechtsbegriff, enthält aber zwei allgemein anerkannte Komponenten, die erfüllt sein müssen: Zum einen muss es sich um eine Situation handeln, bei der eine beachtliche Zahl an Personen gefährdet ist. Zum anderen bedarf es einer darauf basierenden Überforderung der gewöhnlichen Hilfsstrukturen.

Mit einer solchen Ausrufung des Katastrophenfalls kommt dann das Rechtsregime der Katastrophenschutzgesetze zur Anwendung, das im Kern zwei Besonderheiten aufweist: Erstens eine Bündelung sämtlicher Zuständigkeiten zur Bekämpfung der Krise beim jeweiligen Krisenstab und zweitens eine Ausweitung der zulässigen Maßnahmen. In dieser Form sind die Katastrophenschutzgesetze auch neben dem IfSG anwendbar. Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass das IfSG insoweit abschließend wäre und es damit bereits die Ausrufung des Katastrophenfalles verhindern wollte – warum auch?

Schaut man in die einzelnen Ländergesetze ist man allerdings zunächst überrascht. Denn auch dort finden sich neben einer Generalklausel nur wenige explizit zulässige Maßnahmen, eine allgemeine Ausgangssperre ist nicht darunter. Das lässt sich relativ leicht mit der Individualität jeder Katastrophe erklären: Was notwendig ist, lässt sich schlicht nicht abstrakt festlegen und gesetzlich fixieren. Heißt das dann aber nicht, dass eine allgemeine Ausgangssperre auch hier nicht möglich ist? Wieso sollte jetzt die Generalklausel genügen, während das beim IfSG nicht der Fall war?

Überraschend wären Ausgangssperren jetzt nicht mehr

Die Antwort liegt dogmatisch in den besonderen Anwendungsvoraussetzungen des Katastrophenschutzrechts, namentlich dem Katastrophenfall. Da diese materielle Anwendungshürde – die beim IfSG ja nicht besteht – nur schwer zu überwinden ist, können im Falle ihrer Überwindung die Anforderungen an die Bestimmtheit der einzelnen Norm reduziert werden. Für die Bürger ist mit der Ausrufung klar, dass den Behörden nunmehr sehr weitreichende Anordnungen möglich sind.

Die Notwendigkeit einer konkreten Vorhersehbarkeit möglicher Maßnahmen unmittelbar aus der Norm, die der Bestimmtheitsgrundsatz normalerweise verlangt, wandelt sich dadurch in eine abstrakte und durch die Besonderheiten der Katastrophe konkretisierten Vorhersehbarkeit "weitreichender Maßnahmen", die zur Bekämpfung dieser Katastrophe erforderlich sind. Welche das sind wird sich im Laufe der Katastrophe in der öffentlichen Debatte ergeben und in der Tat: Sollte jetzt eine allgemeine Ausgangssperre verhängt werden, wird niemand ernsthaft von einem Überraschungseffekt sprechen können, weil das aus der Norm nicht vorhersehbar gewesen wäre.

Im Ergebnis glaube ich daher, dass die Anordnung einer allgemeinen Ausgangssperre jedenfalls auf Grundlage der Katastrophengesetze zulässig wäre. Natürlich gilt auch hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sodass eine solche Anordnung sowohl zeitlich als auch örtlich begrenzt werden müsste. Im Übrigen aber gilt: Der Staat ist in der Katastrophe handlungsfähig. Wenn wir uns anstrengen, können wir aber gemeinsam verhindern, dass es dazu kommt. Das sollte sich doch machen lassen.

Dr. Alexander Thiele ist Privatdozent und akademischer Rat a.Z. am Institut für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen.

Zitiervorschlag

Ausgangssperren wegen Corona: Im Katastrophenfall geht das . In: Legal Tribune Online, 20.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40979/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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